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Kritik am Beherbergungsverbot: „Es braucht keinen blinden Aktionismus, sondern Verlässlichkeit“ - WELT

Die Zahl der Betroffenen wächst von Tag zu Tag: Inzwischen sind es mehrere Millionen, die als Bewohner der Corona- Risikogebiete in Deutschland mit ihren Reiseplänen für die Herbstferien Schwierigkeiten bekommen. Weil in ihrer Stadt oder ihrem Landkreis mindestens 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gezählt wurden, dürfen sie in den meisten Bundesländern nicht mehr in Hotels und Pensionen beherbergt werden, wie eine Mehrheit der Länder beschlossen hatte.

Einziger Ausweg: Wenn die Einwohner der Risikogebiete noch rechtzeitig einen negativen Corona-Test vornehmen lassen und bei der Anreise vorweisen können.

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Die Opposition im Bundestag kritisiert die Regelung scharf: „Die pauschale Einschränkung der Freizügigkeit innerhalb Deutschlands empfinde ich als unverhältnismäßig“, sagte FDP-Chef Christian Lindner WELT. Nur der Wohnsitz in einem sogenannten Risikogebiet mache aus vorsichtigen Menschen nicht sofort ein Risiko. „Die Einstufung von Risikogebieten selbst muss zudem auf der Basis von mehr Parametern erfolgen als nur der Zahl der Neuinfektionen“, sagte Lindner.

„Testkapazitäten werden für Risikopatienten benötigt“

Dietmar Bartsch, der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, sagte WELT: „Das geltende Beherbergungsverbot ist unlogisch, denn es verbietet beispielsweise Reisen von Berlin nach Brandenburg, aber nicht umgekehrt.“ Auch gefährde es durch die Möglichkeit, sich freitesten zu lassen, „die ohnehin knappen Testkapazitäten, die dringend für medizinisches Personal und Risikopatienten benötigt werden“. In Ländern, in denen die Linkspartei mitregiere, etwa in Thüringen, sei die „Beherbergung von Menschen, die aus innerdeutschen Risikogebieten kommen, daher zurecht nicht verboten“. In der aktuellen Lage brauche es „keinen blinden Aktionismus, sondern Klarheit und Verlässlichkeit“, so Bartsch.

Sebastian Münzenmaier, der Vizevorsitzende der AfD-Fraktion, fordert: „Das innerdeutsche Beherbergungsverbot sollte mit sofortiger Wirkung aufgehoben werden.“ Es sei „ein schwerwiegender Grundrechtseingriff für alle Reisenden und Hoteliers“. Er rate „allen Betroffenen, rechtlich dagegen vorzugehen“. Zudem gefährde das Verbot die laut Münzenmaier „fast drei Millionen“ Arbeitsplätze der deutschen Tourismusbranche.

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Aus den Koalitionsfraktionen kommt grundsätzliche Zustimmung, zugleich aber der Wunsch nach einheitlichen Regelungen. „Ich weiß, dass es schwerfällt: Aber wir befinden uns in einer weltweiten Pandemie. Jetzt ist nicht die Zeit für unnötige Reisen in Risikogebiete, egal ob im In- oder Ausland“, sagte Sabine Dittmar, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Um die Akzeptanz der Corona-Regeln nicht zu gefährden, brauche es „bundeseinheitliche Regelungen, sowohl bei Bußgeldern, innerdeutschen Beherbergungsverboten oder bei der Größe von Veranstaltungen.“ Einheitliche Regeln könnten sehr wohl abgestuft sein und das regionale Infektionsgeschehen berücksichtigen.

Erst nach fünf Tagen Quarantäne testen

Ein Flickenteppich aus Corona-Regeln solle vermieden werden. Der Bund habe etwa mit der Teststrategie für Reiserückkehrer bei Auslandsreisen gute Vorgaben gemacht. „Dass Rückkehrer aus Risikogebieten erst nach einer fünftägigen Quarantäne getestet werden, ist aus infektiologischer Sicht sehr sinnvoll – ich unterstütze das“, sagte Dittmar.

Katja Leikert, die Vizechefin der Unionsfraktion, dringt auf EU-weite Regeln: „Wir brauchen ein funktionierendes europaweites Schnell- und Frühwarnsystem sowie einheitliche Regeln für Reiserückkehrer aus Risikogebieten.“ Ohne Koordinierung werde die EU „in Sachen Corona ein Flickenteppich bleiben – mit allen negativen Konsequenzen für Menschen und den Binnenmarkt“. Ihre Fraktion fordere „die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten auf, dem Thema der Koordinierung die Aufmerksamkeit zu zollen, die es verdient.“

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Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit hatte im WELT-Interview Beherbergungsverbote als „weder zielgerichtet noch verhältnismäßig“ bezeichnet. Für den Mediziner sind innerdeutsche Reisen kein wichtiger Faktor für den Anstieg der Fallzahlen. Er bezweifelt, dass „eine Familie, die sich an der Ostsee ein Haus mietet, stark zur Pandemie“ beitrage.

Laut Schmidt-Chanasit gebe es „nicht ausreichend Kapazitäten, um alle Menschen vor ihrer Reise zu testen“. Das würde die Testzentren und Arztpraxen unnötig überlasten und die Kapazitäten dort nehmen, wo sie dringend gebraucht würden – also in Kitas, Schulen, Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen.

Söder will noch härtere Strafen

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), eine der treibenden Kräfte hinter dem Beherbergungsverbot, forderte am Sonntag eine weitere Verschärfung: Nämlich härtere Strafen für Bürger, die ohne Maske erwischt werden. „Es braucht 250 Euro bei einem Verstoß, bei Wiederholungen 500 Euro“, sagte der CSU-Chef der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Die aktuelle Strafhöhe von 50 Euro sei zu wenig, außerdem könne es sinnvoll sein, wo auf öffentlichen Plätzen gefeiert werde, „auch im Freien eine Maskenpflicht einzuführen“.

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Hotspots, Tests und Reisen

Lindner wies dies zurück. „Anstatt immer höhere Bußgelder ins Spiel zu bringen, sollte Markus Söder sich dafür einsetzen, dass wir endlich ein wirklich umfassendes und bundesweit einheitliches Regelwerk für regionale Maßnahmen gegen Corona bekommen.“ Linksfraktionschef Bartsch sagte: „Markus Söder sollte sich um seine Aufgaben vor Ort kümmern, statt im Wochentakt neue ‚kluge‘ Vorschläge aus Bayern zu unterbreiten, wo die Zahlen mit Abstand am schlechtesten sind.“

AfD-Politiker Münzenmaier sagte, seine Fraktion lehne die Maskenpflicht ab und deshalb auch die „teils überzogenen Bußgelder“. Die Bürger sollten selbst entscheiden dürfen, „ob sie eine Maske tragen möchten oder nicht, insbesondere weil die Wirksamkeit von gewöhnlichen Alltagsmasken als ‚Virenschutz‘ wissenschaftlich sehr umstritten“ sei.

Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, kündigte am Sonntag nach einer Kabinettssitzung an, die Teilnehmerzahl für private Feiern  außerhalb von Privatwohnungen auf höchstens 50 zu beschränken. Zahlreiche Städte in dem dicht besiedelten Bundesland hatten zuletzt die Schwelle von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner überschritten, darunter Köln und Essen. In den betroffenen Städten sollen nun die Öffnungszeiten von Kneipen eingeschränkt und Veranstaltungen mit mehr als 500 Teilnehmern im Freien und 250 Teilnehmern in geschlossenen Räumen gestrichen werden.

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Trotz der ansteigenden Infektionen hält der Präsident der Kassenärztlichen Vereinigung, Andreas Gassen, an seiner Warnung vor Aktionismus fest. Natürlich sei es wichtig, sich weiter an die Hygiene- und Abstandsregeln zu halten, sagte er am Sonntag im NDR: „Andere Maßnahmen sind in weiten Teilen tatsächlich ein bisschen politischer Aktionismus.“ Sie seien untauglich und bänden enorme Ressourcen.

Als Beispiel nannte Gassen das Beherbergungsverbot. „Denken Sie an die Testungen, die angestrengt werden, weil Menschen in den Urlaub fahren wollen. Das heißt: Die Testzentren sind voll mit Menschen, die klinisch kerngesund sind.“ Er plädierte für einen sinnvollen Umgang mit den begrenzten Ressourcen.

Entscheidend sei, die Risikogruppen zu schützen, betonte Gassen. Da sei Deutschland viel weiter als noch zu Beginn der Pandemie: „Aktuell haben wir Infektionszahlen, wie wir sie im Frühjahr zum Teil schon hatten. Und aktuell haben wir am Tag ungefähr Zahlen von zehn bis 20 corona-assoziierten Todesfällen. Wir haben also eine ganz andere Situation als im April.“

Städtetag findet Beherbergungsverbot „nicht durchdacht“ 

Der Präsident des Deutschen Städtetages, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, hat sich dafür ausgesprochen, das Beherbergungsverbot für Reisende aus Corona-Risikogebieten zurückzunehmen. Die Regelung sei „nicht durchdacht, da wird man noch mal rangehen müssen“, sagte der SPD-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag). „Denn wir haben keine Hinweise darauf, dass Hotels oder der Verkehr mit Bus und Bahn Hotspots sind. Die Hotspots entstehen ganz woanders.“ Er rechne damit, dass Bund und Länder bei ihrem nächsten Gespräch noch einmal über das Thema reden.

Jung machte zugleich klar, dass die Lage ernst sei. „Wir müssen uns alle an die Regeln halten, um die Zahl der Corona-Infektionen wieder nach unten zu drücken. Ausgelassene Partys feiern geht zum Beispiel in nächster Zeit nicht. Wir müssen es wieder hinbekommen, wie im Frühjahr ganz viel Disziplin und Rücksicht zu üben.“ Einen zweiten Lockdown müsse man unbedingt verhindern.

Berlin wehrt sich gegen Beherbergungsverbote

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) will die umstrittenen Beherbergungsverbote für innerdeutsche Reisende aus Risikogebieten auf den Prüfstand stellen.

„Das ist weder zielführend, noch erklärbar und schafft vor allem eins: Verwirrung und Unverständnis“, sagte Müller dem Tagesspiegel (Montagsausgabe). Müller wolle das umstrittene Thema bei einer geplanten Bund/Länder-Schaltkonferenz mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch auf die Agenda setzen.

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