Eigentlich müsste Helge Braun an diesem Abend auf dem Podium sitzen. Denn der Chef des Kanzleramts hat die Sache nach Ansicht vieler Ministerpräsidenten verbockt. Braun wird breit geschätzt, zumal er in der Corona-Krise als Arzt auch besondere Kompetenzen mitbringt, er gilt als glänzender Organisator. Diesmal aber hat er es wohl übertrieben, indem er die Regierungschefs der Länder vor vollendete Tatsachen stellen wollte.
Aber wie immer sitzen nach der Runde der Länderchefs mit Angela Merkel die Kanzlerin selbst sowie der aktuelle Chef der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, und sein Stellvertreter, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, vor den Journalisten. Und jeder von ihnen versucht nun auf seine Art und Weise zu beschönigen, was da in den Stunden zuvor bei den jüngsten Beratungen über den weiteren Kampf gegen das Coronavirus schiefgelaufen ist.
»Es gab durchaus ein bisschen unterschiedliche Vorstellungen«, sagt die Kanzlerin von der CDU. »Wir wollen das für die kommende Woche besser vorbereiten«, sagt Berlins sozialdemokratischer Regierungschef Müller. »Das hätte man ein bisschen eleganter machen können im Vorfeld«, sagt der bayerische CSU-Ministerpräsident.
In Wirklichkeit ist es wohl noch nie so giftig zugegangen in der Runde, die in den vergangenen Monaten schon den einen oder anderen Konflikt erlebt hat. Aber diesmal kommt es zu einer regelrechten Länder-Rebellion gegen das Kanzleramt. Und das zwei Wochen nach dem Beginn eines neuen Teil-Lockdowns, in einer Lage, deren Ernst von den politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern niemand anzweifelt.
Die Infektionszahlen der vergangenen Tage zeigen, dass die zweite Welle der Pandemie noch nicht gebrochen ist. Die Gesundheitsämter meldeten dem Robert Koch-Institut nach Angaben vom Montag 10.824 neue Infektionen binnen 24 Stunden. Das sind zwar rund 6100 Fälle weniger als am Sonntag, der Montagswert lag aber auch in den vergangenen Wochen unter jenem vom Sonntag. Am Wochenende wird weniger getestet, zudem übermitteln nicht alle Gesundheitsämter ihre Daten.
Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei 143 Fällen pro 100.000 Einwohner, also weit entfernt vom erklärten Ziel der Regierung, wieder an eine Inzidenz von 50 heranzukommen, damit Kontakte von Infizierten nachvollzogen werden können. Auf den Intensivstationen werden nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft 3500 Covid-19-Patienten behandelt, 20 Prozent mehr als bei der ersten Welle im Frühjahr.
Aber es sind eben erst 14 Tage, seit die Verschärfungen in Kraft sind. Zu früh, um schon neue Entscheidungen zu treffen, findet die Mehrheit der Länderchefs, sie wollen eine weitere Woche verstreichen lassen, während Merkel und Braun der Ansicht sind, dass Deutschland diese Zeit nicht hat: Sie pochen auf weitere Maßnahmen, eine Verschärfung der Regeln.
Die Veranstaltung hat an diesem Montag jedenfalls noch nicht mal begonnen, da ist sie schon gescheitert: Die Ministerpräsidenten – jedenfalls die meisten von ihnen – fühlen sich vom Kanzleramt überrumpelt, als sie von dort am Sonntagabend gegen 22 Uhr eine Beschlussvorlage für die Konferenz am Tag darauf erhalten. Denn anders als am Sonntagmorgen in der Vorbereitungsrunde der Staatskanzleichefs mit Kanzleramtschef Braun besprochen, ist darin nun doch von neuen Beschränkungen und Maßnahmen die Rede. Die Idee, diesen Montag die Lage nur zu besprechen, um dann kommende Woche Entscheidungen zu treffen, scheint vom Tisch. Zumindest für die Berliner Regierungszentrale.
In den Landeshauptstädten aber ist man empört über dieses Vorgehen, zumal die vom Kanzleramt gewünschten weiteren Maßnahmen umgehend an die Öffentlichkeit gelangen.
Schon im CDU-Präsidium wird Merkel kritisiert
Am Montagmorgen im CDU-Präsidium bekommt die Kanzlerin eine erste Ahnung davon, wie groß der Ärger ist. Mehrere Ministerpräsidenten ihrer eigenen Partei hätten das Vorgehen kritisiert, heißt es, unter anderem der Parteivize und nordrhein-westfälische Regierungschef Armin Laschet. Vor allem die für die Schulen avisierten Änderungen sorgen für Ärger. Die Kanzlerin, so ist zu hören, reagiert verstimmt. Und sie ist sauer, weil Äußerungen von ihr aus der Runde schon wieder öffentlich geworden sind. »Ich sage jetzt erst mal nichts mehr«, wenn das so laufe, so wird Merkel wiedergegeben.
Aber es geht so weiter: In der Vorbesprechung der Ministerpräsidenten machen auch die vergrätzten Regierungschefs der SPD Kritik ihrer Empörung über das Kanzleramt Luft. Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Regierungschefin Manuela Schwesig twittert aus der Runde, die Beschlussvorlage sei nicht »besprochen oder abgestimmt«. Thüringens Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow ist besonders sauer, Landesregierungen seien doch »keine nachgeordneten Dienststellen des Kanzleramts«, sagt er Teilnehmern zufolge, Kanzleramtschef Braun agiere »sehr selbstherrlich«.
Das Kanzleramt hat inzwischen eine leicht entschärfte Variante verschickt, aber das reicht den Ministerpräsidenten noch nicht. Nun verständigen sie sich auf ein eigenes Papier, das so gut wie keine neuen Maßnahmen vorsieht.
Als sich die Kanzlerin schließlich gegen 14 Uhr mit den Ministerpräsidenten per Video zusammenschaltet, wird der Streit in großer Runde ausgetragen: Stellvertretend für die Länder beschwert sich der aktuelle MPK-Chef Müller an die Kanzlerin gewandt über die Überrumpelungstaktik ihres Hauses. Merkel, so wird berichtet, reagiert abermals genervt. »Ok«, sagt sie Teilnehmern zufolge. Dann könnten ja für nächste Woche die Länder und der Bund ein Papier liefern – »und dann schauen wir, ob wir zusammenkommen«.
Selbst die in der Regel sehr nüchterne rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer fährt jetzt aus der Haut. Solle das heißen, dass man sich gegenseitig aufschreiben wolle, wo die anderen nicht mitmachen, so wird die Sozialdemokratin zitiert, »und dann führen wir Debatten darum, wer der Blödeste ist?« Dreyer plädiert dafür, das alte Verfahren beizubehalten, aber ohne die Länder zu übergehen.
Auch in der Runde lässt die Schweriner Regierungschefin Schwesig ihren Ärger heraus. »Es darf jetzt keine Salamitaktik geben«, warnt sie laut Teilnehmern, man dürfe nicht von Woche zu Woche neue Einzelmaßnahmen beschließen, so setze man den Rückhalt der Bevölkerung aufs Spiel. Schwesig fordert, in der kommenden Sitzung ein »Gesamtkonzept« vorzulegen, das für Dezember und Januar gelten solle. Was in einem schwer getroffenen Landkreis in Bayern sinnvoll sei, sei bei ihr in Mecklenburg womöglich völlig übertrieben, sagt Schwesig laut Teilnehmern. Aber es gibt auch von den eigenen Leuten Gegenwind für Merkel, etwa von Schleswig-Holsteins CDU-Ministerpräsident Daniel Günther.
Verwunderung über Merkels Agieren
In der Riege der Ministerpräsidenten herrscht über Merkels Agieren große Verwunderung. »Ich weiß nicht, wer sie heute beraten hat«, sagt später einer von ihnen. Die Kanzlerin habe nicht einmal einen Hehl daraus gemacht, mit ihrer Beschlussvorlage Druck auf die Länder ausüben zu wollen. »Ich wusste, dass Sie dagegen sind« – so wird Merkel zitiert.
Bayerns Ministerpräsident Söder, im Kampf gegen Corona eigentlich immer auf Seite Merkels, versucht zu vermitteln. Dabei ist der derzeitige MPK-Vize offenbar ebenfalls verstimmt, in der Ministerpräsidenten-Vorbesprechung hat er sich vertreten lassen, nun sagt Söder Teilnehmern zufolge: »Wir alle spüren doch und wissen doch alle was kommt: Der Lockdown wird nächste Woche nicht aufgehoben.« Vielleicht könnte man an der einen oder anderen Stelle dann doch diesen Montag bereits weitergehende Schritte vereinbaren.
Aber das Ergebnis ist ein anderes: Am Ende verständigt sich die Runde auf eine neunseitige Absichtserklärung mit viel Lyrik, fast alle konkreten Entscheidungen werden auf kommende Woche Mittwoch (25. November) vertagt, wenn in der Runde erneut beraten wird. Was Merkel und ihr Kanzleramtschef durchsetzen wollten, ist im Papier nun maximal als Appell festgehalten: Beispielsweise, Kontakte mit anderen auf zwei Personen zu reduzieren.
Vor allem aber: Auf neue Vorgaben für Schulen verzichtet die Runde vorerst komplett – und vertagt das Thema ebenfalls. Der Bund wollte unter anderem eine generelle Maskenpflicht für alle Schüler und Lehrer im Unterricht und auf dem Schulgelände durchsetzen. Außerdem sollten die Schulen die Klassen halbieren oder größere Räume nutzen.
Die einzige Entscheidung steht auf Seite 7 des Papiers. Demnach will der Bund an besonders vulnerable Gruppen 15 FFP2-Masken pro Person verteilen, gegen eine geringe Eigenbeteiligung. Wer zu den Begünstigten zählt, soll noch mit Hilfe des Gemeinsamen Bundesausschusses ermittelt werden, des höchsten Gremiums der Selbstverwaltung von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen.
Alles Weitere soll am 25. November beschlossen werden. Diesmal, so die Absprache, sollen die Länder sich tatsächlich im Vorfeld abstimmen und selbst einen Vorschlag präsentieren, der dann mit dem des Kanzleramts abgeglichen wird.
Ob das helfen wird?
Einer ist schon wieder skeptisch. »Ob das besser wird, da bin ich noch nicht ganz so sicher«, sagt Markus Söder.
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