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Wie Nawalnyj im Kampf gegen Putin den Einsatz erhöht - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Nach den Protesten, die am Samstag in Dutzenden Städten in ganz Russland Zehntausende auf die Straßen brachten, hat jede Seite ihre eigenen Bilder. Wer auf Seiten der Demonstranten steht, sieht etwa die Aufnahmen eines Polizisten, der in Sankt Petersburg eine ältere Frau so tritt, dass sie auf den Asphalt prallt. Sie hatte gewagt zu fragen, warum der Polizist zusammen mit Kollegen einen jungen Mann abführte, und liegt jetzt auf einer Intensivstation.

Solche Russen schauen auch auf Bilder davon, wie gepanzerte Sonderpolizisten, die „Kosmonauten“, mit Schlagstöcken auf Demonstranten einprügeln. Protestbefürworter erbauen sich daran, wie Menschenmengen die Zentren von Moskau und Sankt Petersburg verstopften, an Plakaten mit Fotos des Oppositionsführers Alexej Nawalnyj, um dessen Freilassung es ging, und der Parole „Einer für alle, alle für einen“.

Protest bei minus 51 Grad

An den Protesten nahmen nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 110.000 und 160.000 Menschen teil; in der Hauptstadt zwischen 15.000 und 40.000 (auf jeden Fall mehr als die offiziell mitgeteilten 4000); in Sankt Petersburg um die 20.000; in Nischnij Nowgorod bis zu 10.000. Tausende waren es jeweils im fernöstlichen Wladiwostok und in den sibirischen Städten Tomsk, Nowosibirsk, Krasnojarsk, Irkutsk. In Jakutsk trotzten 300 Demonstranten Temperaturen von minus 51 Grad, 7000 waren es in Jekaterinburg im Ural bei minus 34 Grad.

Nie zuvor hatte Nawalnyj so viele Leute auf die Straßen holen können, noch nie waren Proteste in der Herrschaftszeit von Präsident Wladimir Putin geographisch so breit gestreut. Obwohl die Gefahren gewachsen sind: Alle Aktionen waren aus Sicht der Behörden illegal, überdies wütet die Corona-Pandemie. Für viele, die kamen, ist Nawalnyj ein Held; vielen ging es allgemein um „Gerechtigkeit“, „Machtwechsel“, „Veränderung“. In Moskau gaben 42 Prozent der für eine Studie befragten Teilnehmer an, vorher noch nie an Protesten teilgenommen zu haben.

Mit WC-Bürsten spielten manche Demonstranten wie hier in Kaliningrad am 23. Januar auf Enthüllungen Nawalnyjs über Luxuseinrichtungsgegenstände in „Putins Palast“ an.

Mit WC-Bürsten spielten manche Demonstranten wie hier in Kaliningrad am 23. Januar auf Enthüllungen Nawalnyjs über Luxuseinrichtungsgegenstände in „Putins Palast“ an. : Bild: dpa

Russen wie die, die am Samstag demonstrierten, informieren sich über unabhängige Online-Medien oder Youtube-Blogger. Für sie hat Nawalnyj vor fünf Monaten einen Giftanschlag überlebt, aus Deutschland die Attentäter enttarnt, ist in Russland ohne Rechtsgrundlage inhaftiert und hat Putin nun mit einem Enthüllungsfilm über einen Palast mit Weinbergen, Striptease-Stange, Kirche und Eisstadion bloßgestellt. Dieser Film wurde bis zum Sonntagnachmittag mehr als 80 Millionen Mal auf Youtube aufgerufen.

Putin ist der „Opa im Bunker“

Für diese für das Regime verlorene Gruppe ist Putin der „Opa im Bunker“, als der ihn Schilder auf der Moskauer Demonstration verspotteten. In der Hauptstadt winkten zahlreiche Autofahrer den Demonstranten zu, ihr Hupkonzert übertönte Warndurchsagen der Polizei: So hatte man das bei keiner Protestaktion Nawalnyjs der jüngeren Vergangenheit erlebt. Sein Rückhalt ist gewachsen.

Aber das System ist zäh und wehrhaft. In der Version der Staatsmedien, die weiter die Weltsicht vieler Russen prägt, ist Nawalnyj ein unbedeutender Blogger und Westagent, der die Vergiftung simulierte oder durch ausländische Dienste erlitt. Auch diesen Russen werden Bilder von den Protesten vermittelt: Obwohl Putins Sprecher, Dmitrij Peskow, am Sonntag sagte, daran hätten „wenige Leute“ teilgenommen, „viele Leute stimmen für Putin“, waren die Demonstrationen zu groß, als dass man sie verschweigen könnte. Die Staatsmedien zeigen Polizisten, die Pfefferspray ins Gesicht bekommen hätten, oder ein Regierungsauto, welches Protestierende in Moskau attackiert und den Fahrer am Auge verletzt hätten.

Ein Demonstrant in Moskau am 23. Januar hält ein Nawalnyj-Poster hoch.

Ein Demonstrant in Moskau am 23. Januar hält ein Nawalnyj-Poster hoch. : Bild: AFP

Von einer „Welle der Aggression von Wladiwostok bis Moskau“ berichtete das Staatsfernsehen. Russland sei „aus dem Ausland“ angegriffen worden. So habe das Portal Youtube des Google-Konzerns den unabhängigen russischen Online-Sender TV Doschd bevorzugt, der von den Protesten berichtete. Hunderttausende von dessen Zuschauern seien „Ausländer“ gewesen. Aus einer Warnung der Botschaft der Vereinigten Staaten in Moskau an amerikanische Bürger, welche Bereiche es wo zu meiden gelte, machten das Staatsfernsehen, das Außenministerium und Peskow einen Aufruf zur Teilnahme und eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“.

Mit Schneebällen gegen die Polizei

Mediziner und die Moskauer Stadtverwaltung wiederum beklagten die epidemiologischen Gefahren. Reporter machten gleichsam Jagd auf Minderjährige, im Staatsfernsehen hieß es dann, die Kinder seien von „ausländischen Geheimdiensten“ auf die Veranstaltungen gelockt worden, wo sie „buchstäblich verlorengehen“. Mindestens 300 Minderjährige seien festgenommen worden, klagte Putins Kinderbeauftragte Anna Kusnezowa in Moskau. Dort indes waren in der Menge wenige sehr junge Gesichter zu sehen; laut der Moskauer Umfrage waren vier Prozent der Teilnehmer minderjährig, 62 Prozent waren zwischen 18 und 35 Jahren alt.

Anhänger des „Bloggers Nawalnyj“ brauchten „das Chaos“, hieß es im Staatsfernsehen. Die Polizei ist in der Darstellung liebenswertes Opfer: „In welchem Land der Welt verteilt die Polizei, nachdem sie angegriffen wurde, Kekse und Masken?“ In Moskau kam es nach der gewaltsamen Räumung des Puschkin-Platzes zu Zusammenstößen, den schwersten seit langem. Demonstranten bewarfen Polizisten mit Schneebällen. Am Gefängnis „Matrosenruhe“ im Osten der Hauptstadt, in dem Nawalnyj inhaftiert ist, wurden Dutzende brutal abgeführt.

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Dass so viele Personen wie noch nie bei einer Aktion in Russlands jüngerer Geschichte festgenommen wurden – die Aktivisten von OWD Info zählten mehr als 3500 insgesamt, davon mehr als 1400 in Moskau –, zeugt von der Teilnehmerzahl und vom vielerorts harten Vorgehen der Polizei. Und damit auch von der Entschlossenheit der Behörden, die in den Tagen vor den Aktionen Mitstreiter Nawalnyjs festgenommen und zu Arreststrafen verurteilt hatten. Am Samstag wurden auch viele Journalisten zeitweise festgehalten, auch geschlagen. Julija Nawalnaja, die Frau des Oppositionellen, wurde im Zentrum Moskaus ebenfalls festgenommen, aber nach einigen Stunden freigelassen.

Die alten Regeln gelten nicht mehr

Die Verhärtung spiegelt die noch härtere Gangart des Kremls gegenüber jedem Widerstand. Das wird oft mit den Protesten im Nachbarland Belarus erklärt, dem einige Demonstranten in Sprechchören Tribut zollten. In dieser Logik gilt es, Nawalnyj als Katalysator ähnlicher Vorgänge aus dem Verkehr zu ziehen. Früher hatte der Kreml es vermieden, Nawalnyj zu inhaftieren: Er musste viele Arreste absitzen; in einem Untersuchungsgefängnis verbrachte er aber nur  2013 nach einer Verurteilung zu fünf Jahren Haft eine Nacht, nach Protesten wurde sein Urteil zur Bewährung ausgesetzt.

Diese Regeln gelten nicht mehr, und Nawalnyj hat den Einsatz erhöht. Seine Mitstreiter haben für das kommende Wochenende weitere Proteste angekündigt. Es wird für sie aber noch schwerer, sie zu organisieren, da ihre Leute vielerorts zu Arreststrafen verurteilt worden sind und weiterhin werden. Das Regime setzt nun auf Abschreckung, auch durch zahlreiche Strafverfahren unter anderem wegen „Aufrufs zu Massenunruhen“ und Gewalt gegen Polizisten.

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