Die Opposition im Bundestag hat die Beschlüsse von Bund und Ländern zur weitgehenden Verlängerung des Corona-Lockdowns bis zum 7. März kritisiert. „Nur den Friseuren eine Öffnung zu erlauben, ist total willkürlich“, sagte FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae WELT. „Man will der Bevölkerung ein Friedensangebot machen, damit jeder mal wieder seine Haare schneiden lassen kann. Aber so funktioniert die Gewährung von Grundrechten nicht.“
Richtig wäre es gewesen, so Thomae, die Öffnung der Betriebe an „sachliche Kriterien“ zu knüpfen. „Es gibt viele Geschäfte und Restaurants, die Schutzvorkehrungen getroffen haben: Die Betreiber haben Lüftungsanlagen eingebaut, ihr Personal geschult oder Desinfektionstische bereitgestellt. Sie weiter geschlossen zu halten, ist unsystematisch.“
Positiv sei hingegen die Einigung, Lehrer und Erzieher prioritär zu impfen. „Offensichtlich hat man erkannt, dass der Bildungserfolg der Kinder unter der Pandemie nicht länger leiden darf. Man räumt den Ländern auch mehr Beinfreiheit bei der Frage der Schulöffnungen ein.“
Auch FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki reagierte mit Kritik auf die Beschlüsse: „Wer erwartet hat, dass heute das Versprechen eingelöst wird, den Menschen eine klare Perspektive zu geben, der wurde bitter enttäuscht“, sagte er der „Rheinischen Post“ vom Donnerstag. „Eine wirkliche Strategie, die über die einfältige Schließung und Verbote hinausgeht, fehlt nach über einem Jahr Pandemie noch immer.“
Die Runde der Regierungschefs habe lediglich ein „Beschäftigungsprogramm für Anwälte vorgelegt“, kritisierte Kubicki. „Es ist davon auszugehen, dass viele Unternehmer und Selbstständige ihre verfassungsmäßigen Rechte einklagen werden.“
Kubicki warf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Regierungschefs der Länder nach dem Corona-Gipfel einen „offenen Rechtsbruch“ vor. „Dass wir die Maßnahmen, die die MPK für eine 200er-Inzidenz eingeführt hat, nahezu unverändert bis zum Inzidenzwert von 35 beibehalten sollen, ist unverantwortlich und ein offener Rechtsbruch“, sagte der Bundestagsvizepräsident dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Donnerstagsausgaben). Die verfassungsmäßigen Kompetenzen gerieten „komplett unter die Räder“.
„Evident verfassungswidrig“
Dass plötzlich die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) über die Impfreihenfolge befinden solle, sei „evident verfassungswidrig“, sagte Kubicki. „Dies gehört eindeutig in die Zuständigkeit des Bundestages.“ Er kritisierte zudem, „dass auf einmal die infektionsschutzrechtlich verankerten Inzidenz-Schwellenwerte keine Rolle mehr spielen“. Dies zeige „eine Ignoranz gegenüber dem Gesetzgeber, die mit Sicherheit gerichtliche Auseinandersetzungen provozieren wird“.
Die AfD ging mit den Beschlüssen scharf ins Gericht. Fraktionschefin Alice Weidel kritisierte die Verlängerung des Lockdowns bis zum 7. März als „fatal“. Der dadurch angerichtete Schaden an Wirtschaft und Gesellschaft sei „unermesslich“.
Der Beschluss von Bund und Ländern legt fest, dass die bestehenden Regelungen bis zum 7. März gelten. Einzelhandel, Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen bleiben geschlossen. Friseure sollen am 1. März unter Hygieneauflagen wieder aufmachen können. Der Handel soll folgen, wenn die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen unter 35 liegt.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte: „Die heutigen Beschlüsse zeigen, dass sich Angela Merkel gedanklich im Lockdown eingemauert hat.“ Statt den Menschen nach Wochen im Lockdown eine „klare Perspektive“ zu bieten, stünden Kanzlerin Merkel und auch Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) unbeweglich auf der Bremse, sagte der Linken-Politiker den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die nächsten Wochen seien für viele Betriebe der letzte Sargnagel, mahnte Bartsch. „Dies ist insbesondere Peter Altmaier anzulasten, dessen Versäumnisse weitere Arbeitsplätze kosten werden.“
Handwerk und Reisebranche enttäuscht
Auch das Handwerk und die Reisebranche reagierten unzufrieden auf die Bund-Länder-Beschlüsse. „Die epidemiologisch begründete Verlängerung des Lockdowns stellt für sehr viele weiter von Schließungen betroffene Handwerksbetriebe unverändert eine schwere Belastung dar und droht, viele von ihnen in die Knie zu zwingen“, erklärte der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer.
„Um in dieser Situation zahlreiche Insolvenzen durch Überschuldung oder Illiquidität abzuwenden und so viele Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze zu retten, halten wir an unserem bereits mehrfach gemachten Vorschlag fest und dringen nach wie vor darauf, die Verlustverrechnung auf zwei, besser drei Jahre auszuweiten“, sagte Wollseifer. „Viele Betriebe werden nicht überleben, wenn Hilfen nicht schnellstens ausgezahlt werden oder sie auf anderen Wegen an mehr Liquidität gelangen.“
Die vorgesehene Öffnung von Friseurbetrieben am 1. März allerdings „nimmt diesen Betrieben und ihren Beschäftigten ein Stück Existenzangst und hilft, einen tausendfachen Arbeitsplatzverlust abzuwenden“, lobte der Handwerkspräsident zugleich. „Das ist auch eine Würdigung der von unseren Betrieben ausgearbeiteten und umgesetzten Hygienekonzepte.“
Der Deutsche Reiseverband (DRV) kritisierte, die Branche befinde sich „von einer kurzen Phase der Erholung im Sommer abgesehen de facto seit einem Jahr im Lockdown – ohne eine Perspektive“. Diese bräuchten die Betriebe und ihre Mitarbeiter aber. „Viele mussten bereits ihr Geschäft aufgeben oder stehen kurz vor der Insolvenz.“
Wer ganze Wirtschaftszweige „in den Lockdown schickt“, müsse auch „Konzepte für den Restart“ vorlegen, betonte der Verband. „Dazu müssen Politik und Reisewirtschaft im engen Dialog abstimmen, in welchen Schritten und unter welchen Bedingungen die Branche ihr Geschäft wieder aufnehmen kann.“
Der Wirtschaftsweise Lars Feld hingegen hält die Verlängerung des Lockdowns wirtschaftlich für verkraftbar. „Die Industrie und der Bau sind weiterhin relativ stark und bleiben das Rückgrat der konjunkturellen Erholung selbst bei einer Lockdown-Verlängerung bis in den März“, sagte Feld den Funke-Zeitungen.
Die Verlängerung des Lockdowns belaste die konjunkturelle Entwicklung zwar weiter. Angesichts der Sorge um eine dritte Infektionswelle mit einem mutierten Virus sei sie aber verständlich, führte der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung aus.
Bildungsverbände kritisieren Bund-Länder-Beschlüsse
Ebenfalls enttäuscht ist der Deutsche Lehrerverband. „Es muss endlich Schluss sein mit den Alleingängen der Bundesländer beim Schulbetrieb“, sagte Präsident Heinz-Peter Meidinger den Funke-Zeitungen. Ein unterschiedliches Vorgehen in den Ländern schwäche die Akzeptanz politischer Entscheidungen und verstärke die ohnehin große Verunsicherung von Eltern, Schülern und Lehrkräften.
Wichtig sei eine Öffnungsperspektive, „die verantwortbar, verlässlich und vor allem dauerhaft ist“, sagte Meidinger. Schulöffnungen mit Präsenzunterricht im Wechselbetrieb dürften erst dann erfolgen, wenn in der jeweiligen Region die Sieben-Tage-Inzidenz unter dem Wert von 50 liege. „Das sollte eine bundesweit einheitliche Regelung sein“, forderte Meidinger. Laut den neuen Beschlüssen des Corona-Gipfels sollen die Länder in eigener Regie über die Öffnung von Schulen und Kitas entscheiden.
Auch der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Udo Beckmann, forderte mehr Tests, medizinische Masken für Lehrkräfte und Kita-Personal und einheitliche Regeln. „Wir halten es weiterhin für unabdingbar, dass bundesweit bei einem vergleichbaren Infektionsgeschehen vor Ort auch die gleichen Maßnahmen ergriffen werden.“ Der VBE begrüßte die Überlegungen, Grundschul- und Kita-Personal früher eine Impfmöglichkeit anzubieten. „Dies ist zwingend erforderlich und muss schnellstmöglich umgesetzt werden.“
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