WELT: Herr Madsen, Rostock ist bislang sehr gut durch die Corona-Pandemie gekommen: Wie ist die Hansestadt aktuell aufgestellt?
Claus Ruhe Madsen: Laut Robert-Koch-Institut liegt Rostocks Inzidenz aktuell bei 25,8. Worauf wir jedoch mehr Wert legen, wenn man das so sagen darf, ist, dass wir seit Beginn der Pandemie nur 27 Todesfälle bei 209.191 Einwohnern haben. Ich glaube, dass in einem Jahr niemand mehr über die Sieben-Tage-Inzidenz sprechen wird, wohl aber darüber, wie viele Menschen gestorben sind.
Durch unsere niedrige Inzidenz kann unser Klinikum aber sein normales und volles Programm fahren, bei der Vorsorge und der Behandlung von Krebserkrankungen zum Beispiel. Das empfinden wir als Erfolg.
WELT: Wie schnell impfen Sie derzeit in Rostock?
Madsen: Ich impfe alles, was ich bekomme. Das ist natürlich eine begrenzte Impfstoffmenge, weil meine Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern die Hälfte der Impfstoffe nach wie vor für die Zweitimpfung zurückhält. Ich habe mehrfach darum gebeten, weniger Impfstoff zurückzuhalten, weil ich lieber so vielen Menschen wie möglich, insbesondere älteren Menschen und Pflegeheimbewohnern, eine Erstimpfung anbieten möchte. Ich möchte möglichst vielen Menschen einen Impfschutz von wenigstens 70 Prozent geben als wenigen einen von 97 Prozent.
WELT: Demnächst soll ja mehr Impfstoff zur Verfügung stehen.
Madsen: Dabei habe ich aber die Befürchtung, dass dies wie bei einer Ketchup-Flasche endet, wo erst wenig und dann ein großer Schwall auf einmal herauskommt, den wir bewältigen müssen. Das funktioniert nicht von heute auf morgen.
Bereits Mitte Dezember hatten wir in Rostock eine lange Liste mit Ärzten, Krankenschwestern und freiwilligen Mitarbeiter, die in bis zu 40 mobilen Teams organisiert und bereit waren, zu impfen. Wir hatten niedergelassenen Ärzten Impfboxen aus dem Impfzentrum überlassen, damit sie ihre älteren Patienten selbstständig in der Praxis impfen können. Nur hilft uns alles recht wenig, wenn wir zu wenig Impfstoff haben.
WELT: Am Mittwoch kommen Bund und Länder erneut zusammen, dann könnte der Lockdown bis kurz vor Ostern verlängert werden. Was erwarten Sie von den Ministerpräsidenten und der Kanzlerin?
Madsen: Mir ist es wichtig, dass wir jetzt endlich den Menschen in den Fokus rücken. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir sehr technokratisch sind. Wir hören auf Virologen, beziehen uns auf mathematische Berechnungen, aber überhaupt nicht auf Kinderpsychologen – auf jene Aspekte also, die wir rund um Corona auch bedenken müssen.
Rechenmodule sind gut und schön, können eine Lage auch immer anpassen und korrigieren – aber das ist so fern vom Menschen, und das ist nicht der richtige Ansatz.
WELT: Was heißt das konkret?
Madsen: Ich laufe als Oberbürgermeister nicht durch die Stadt und mache irgendwas Verrücktes. Wir haben ein Gesundheitsamt und wollen wissensbasiert Öffnungen schrittweise ermöglichen. Unsere Antwort auf die vielen Fragen der Kinder, Eltern, Unternehmer, Vereine, Senioren und anderer Bürger kann nicht sein, die Gesellschaft geschlossen zu halten. Das hat gravierende Folgen, die uns vielleicht über Jahrzehnte begleiten werden.
Einen Teil der älteren Menschen und Bewohner in Pflege- und Altenheimen haben wir bereits geimpft und einen gewissen Schutz aufgebaut. Und in diesem Bereich der Unterkünfte müssen wir weiter maximal impfen und testen. Wir müssen aber auch Wege der Öffnung aufzeigen, denn Corona wird uns noch Monate beschäftigen. Und ich wünsche mir ein Spielfeld, auf dem wir Kommunen und Gemeinden gemeinsam mit unseren Gesundheitsämtern agieren können.
WELT: In einem Strategiepapier, das Sie mit den Oberbürgermeistern aus Münster und Tübingen erarbeitet haben, fordern Sie ein drastisches Umdenken bei der Verhängung von Corona-Maßnahmen. Wie sieht Ihr Öffnungsplan aus?
Madsen: In Rostock wollen wir zuallererst Bildung ermöglichen, indem wir die Kitas und Schulen öffnen. Kinder haben ein Recht auf Bildung. Und dafür bieten wir den Schülerinnen und Schülern ab sofort bis Pfingsten bis zu zweimal die Woche Selbsttests für zu Hause an. Dann erkennen wir sofort, wenn sie die Testergebnisse mit in die Schule bringen, wo wir ein Ausbruchsgeschehen haben und handeln müssen. Wir sammeln ferner Informationen, wissenschaftlich begleitet, die uns bei möglichen späteren Pandemien helfen.
In Dänemark nimmt die britische Mutante mittlerweile einen Anteil von 40 Prozent an allen Neuinfektionen ein, mit einem inzwischen hohen Anteil bei Kindern und Jugendlichen – und dem großen Problem, dass viele symptomfrei sind. Deshalb müssen wir dringend in den Schulen testen, um herauszufinden, ob wir dort ein konkretes Problem bekommen.
WELT: Sie wollen auch Handel ermöglichen.
Madsen: Wir wollen mit Terminvergabe öffnen, als freiwilliges Angebot an den Brautmodenladen, den Juwelier, den Auto- oder Möbelhändler etwa. Dafür sollen die Kunden wiederum die App „Luca“ auf ihrem Smartphone zur digitalen Kontaktverfolgung nutzen. So können wir das sonst so aufwendige Nachverfolgen des Gesundheitsamts, wenn irgendwo eine Infektion auftritt, mit einem Tastendruck erledigen. So erhöhen wir bei steigender Inzidenz die Kontaktverfolgung, machen sie effektiver.
Und es ist kein Problem mehr, wenn dabei der Name Micky Maus auftaucht, denn wir haben die Mobilnummer und können den Inhaber erreichen. Bei den Friseuren hat der Einsatz von „Luca“ am Montag in Rostock schon super funktioniert, wie mir die Friseur-Innung mitgeteilt hat. Aus diesem Pilotprojekt möchte ich möglichst viel Wissen und Daten sammeln, weil wir die dritte, vierte und fünfte Welle bekommen werden.
WELT: Dann ist die Festlegung auf einen bestimmten Inzidenzwert nicht das Entscheidende?
Madsen: Wir wissen heute viel mehr über das Virus und die Behandlung der Krankheit. Wir haben damit begonnen, mit den Älteren jene zu impfen, die überwiegend in die Kliniken kommen. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Krankenhäuser selbst bei einer höheren Inzidenz nicht überlastet sein werden. Also könnten wir auch bei einem höheren Inzidenzwert wieder öffnen und lernen, damit umzugehen.
Je mehr wir Apps wie „Luca“ anwenden, umso mehr können wir die Lage nachverfolgen und den Menschen Möglichkeiten geben, dass sie zurück ins Leben und in die Arbeit finden. Ich möchte zum Beispiel noch im März Zweitgeimpfte aus den Pflege- und Altenheimen zu drei Konzerten ins Volkstheater einladen. Ich möchte wieder Freude ermöglichen, mit Kunst und Kultur, mit Sport in Vereinen – auch dort in Form von Selbsttests – und mit der bereits erwähnten schrittweisen Öffnung des Handels.
WELT: Was fordern Sie neben Schnelltests und einer digitalen Nachverfolgung noch?
Madsen: Der Rostocker Plan wird noch durch ein Ampelsystem ergänzt. Das setzt sich aus sieben Indikatoren zusammen: Das Gesundheitsamt meldet, ob es mit der Kontaktverfolgung nachkommt, wie die demografische Zusammensetzung der Infizierten ist und ob es sich um einen Ausbruch an einem oder mehreren Orten handelt. Hinzu kommen der Anteil der Mutanten, der R-Wert, die Sieben-Tage-Inzidenz und die Belegung der Kliniken. Mit diesen sieben Indikatoren ermitteln wir täglich ein Gesamtbild, verteilen pro Indikator bis zu drei Punkte, kommen auf insgesamt 21 und schalten entsprechend die Ampel auf grün, gelb oder rot.
Wir müssen weg von der 35er-Inzidenz, auch von der 50. Stattdessen brauchen wir eine Ampel, die die genannten Parameter aufgreift. Wir brauchen einen Weg mit Corona, weil wir in dieser Ausnahmesituation schlicht nicht alles reglementieren können. Keine Maßnahme, kein Gesetz hindert Menschen daran, sich zu treffen. Also lasst es uns doch dort erlauben, wo wir die Menschen sehen, ihre Schritte nachverfolgen und im schlimmsten Fall stoppen können.
WELT: Als EU-Bürger haben Sie das Recht, auf kommunaler Ebene zu kandidieren. So sind Sie Oberbürgermeister in Rostock geworden. Nun gibt es Menschen, die sich wünschen, dass Sie die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, um höhere Ämter in der Politik bekleiden zu können. Sie haben das bislang abgelehnt. Und welchen Umständen könnten Sie darüber noch einmal nachdenken?
Madsen: Ich bin Oberbürgermeister der schönsten Stadt der Welt und habe keine Pläne, diese zu verlassen. Aber ich wäre mittlerweile bereit, deutscher Staatsbürger zu werden – und damit jetzt keine Spekulationen aufkommen, erst nach der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern und der Bundestagswahl am 26. September.
Ich möchte allerdings nicht Deutscher werden, um weitere Posten zu erreichen, sondern um meinen Dank gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern darüber auszudrücken, was wir gemeinsam in dieser Pandemie geschafft haben. Wir befinden uns derzeit auf einem sinkenden Schiff, und als Kapitän habe ich dabei eine Aufgabe: Ich muss dafür sorgen, dass die Rostocker Kogge sicher im Hafen ankommt.
WELT: Wie schaffen Sie es, auf dem Boden zu bleiben, obwohl Sie seit Beginn der Pandemie wegen Ihres Pragmatismus gelobt werden?
Madsen: Ich habe eine finnische Ehefrau.
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