Es ist nur wenige Tage her, da sah es so aus, als wäre die Kanzlerin angeschlagen, doppelt geschwächt. Da war erst die Panne mit der geplanten Osterruhe, die Angela Merkel (CDU) zurücknehmen musste und dafür um Verzeihung bat. Und dann folgte ihre Absage, sich im Bundestag der Vertrauensfrage zu stellen. Weil sie fürchtete, die zu verlieren? Weil das noch mehr Schwäche gezeigt hätte? Das wäre ein Trugschluss.
Die Abstimmung im Parlament hätte die Kanzlerin mit Sicherheit gewonnen. Aber für Merkel wäre das ein unnötiges Scharmützel gewesen. Stattdessen hat sie Atem geholt und Anlauf genommen – und nun selbst die Machtfrage gestellt. Nicht vor den Abgeordneten. Nicht im Bundestag. Sondern in einem ARD-Fernsehstudio, bei Anne Will.
Angela Merkel – „Länder müssen nachlegen“
Die Öffnungsexperimente einiger Länder sind für Bundeskanzlerin Angela Merkel wohl zu viel. Die Länder sollen hier nachsteuern. Die Kritik an ihrer Forderung wird immer lauter.
Quelle: WELT/ Peter Haentjes
Denn nichts anderes war ihre Ankündigung im Interview, man müsse die Pandemiebekämpfung „vielleicht bundeseinheitlich regeln“, sollten die Bundesländer „in sehr absehbarer Zeit“ ihre Maßnahmen zur Eindämmung von Corona nicht verstärken. Die Kanzlerin kündigte unverhohlen an, die Länder – falls nötig – an die ganz kurze Leine zu nehmen. Würde man das Verhältnis von Bund und Ländern mit einer Ehe vergleichen, käme man zu dem Ergebnis: Es ist zerrüttet.
Der Auftritt Merkels war ein politisches Lehrstück par excellence. Staatsrechtlich gesehen könnte sie den Ländern ein Stück Macht entwinden und das Infektionsschutzgesetz so ändern, dass die Bundesregierung mehr Einfluss auf die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nehmen kann. Tatsächlich wäre der politische Schaden bei einem solchen Alleingang aber immens – und der Widerstand der Länder, die vor Ort handeln müssen, programmiert. Die Kanzlerin hat eine Drohkulisse errichtet, nicht mehr. Aber die wirkt.
Das Infektionsschutzgesetz wurde im Laufe der Corona-Pandemie durch den Bundestag bereits mehrmals überarbeitet – allerdings zaghaft, um den Handlungsspielraum von Bund und Ländern nicht einzuengen. In dem Gesetz ist zum Beispiel geregelt, dass die Länder Maßnahmen wie Maskentragen oder Abstandsgebote verhängen dürfen, ebenso wie Kontaktbeschränkungen oder Betriebsschließungen. Weiter heißt es, dass umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen seien, wenn Schwellenwerte wie die 35er- oder die 50er-Inzidenz überschritten würden. Wie genau die Schutzmaßnahmen auszusehen haben, ist allerdings nicht vorgegeben: Man wollte flexibel bleiben.
Das könnte sich nun ändern, folgt man Merkel. Theoretisch könnte der Bundestag im Infektionsschutzgesetz festlegen, welche Maßnahmen die Länder ab welcher Inzidenz zu ergreifen haben. Der Bundestag könnte auch beschließen, dass die Bundesregierung manche Beschränkungen – etwa einen bundesweiten Lockdown – im Rahmen einer Verordnung einfach selbst verhängen kann. Die Länder müssten folgen. Laut mehreren Staatsrechtlern wäre zumindest im ersten Fall keine Zustimmung des Bundesrats erforderlich.
„Der Bundestag kann das Infektionsschutzgesetz ohne Zustimmung des Bundesrats ändern“, sagt die Staatsrechtlerin Anna Leisner-Egensperger WELT. „Das Infektionsschutzrecht fällt nicht unter die Politikbereiche, bei denen es eine Zustimmung der Länder bräuchte.“ Etwaige Gesetzesänderungen müssten der Länderkammer allerdings zugeleitet werden. „Wenn eine Mehrheit der Ländervertreter mit den Maßnahmen nicht einverstanden sein sollte, könnte der Bundesrat den Vermittlungsausschuss anrufen. Der Bundestag könnte den Einwand des Bundesrats dann mit Mehrheit zurückweisen.“ Alle paar Wochen Ministerpräsidentenkonferenzen – das wäre damit hinfällig.
Und es wäre natürlich eine Machteinbuße für die Länder – und die sind nach Merkels Vorstoß nun am Zug. Immer nur nein zu den Vorschlägen der Kanzlerin zu sagen und darauf zu beharren, man tue alles Menschenmögliche, reicht nicht. Schon gar nicht, wenn die Infektionswerte wie derzeit wieder steigen. Und so ungewöhnlich die Attacke Merkels an sich schon war, so überraschend waren die Reaktionen am Tag darauf. Natürlich gibt es Protest bei den Ländern, Widerstand, Schuldzuweisungen Richtung Bundesregierung. Aber all das fällt nicht nach den üblichen politischen Lagern aus, nicht straff nach Parteilinien.
Michael Müllers Konzept laut Merkel? „Bummeln und Testen“
Je länger die Pandemie andauert, desto mehr lösen die sich nämlich auf. Wichtiger als diese Lager werden mit jeder Woche die Infektionswerte in der jeweiligen Region. Sie bestimmen das Handeln der Landesregierungschefs – und zunehmend kämpft jeder von ihnen für sich allein.
Es fing damit an, dass die Kanzlerin bei ihrem Talkshow-Interview für alle erkennbar drei Ministerpräsidenten verschiedener Parteien besonders ins Visier nahm: Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD), dessen Strategie sie offen als „Bummeln und Testen“ verspottete. Dabei kamen die beiden bei den jüngsten Bund-Länder-Treffen zuletzt ganz leidlich miteinander aus. Doch der Kanzlerin sind die Konzepte der Länder gegen Corona zu halbgar, gerade auch das in Berlin.
Der volle Unmut Merkels traf aber zwei Landesregierungschefs aus ihrer eigenen CDU: Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans, weil er sein gesamtes Bundesland zur Modellregion mit Öffnungsmöglichkeiten erklärt hatte. Und Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen, weil der die Notbremse nicht so heftig zieht, wie es Merkel gerne hätte. Die Kanzlerin schont derzeit niemanden – egal, welcher Partei man angehört.
Erwartbarerweise lösten die Rügen und die Ankündigung der Kanzlerin zum Infektionsschutzgesetz einen Proteststurm in den Landeshauptstädten aus. „Angesichts der Mängel bei der Impfstoffbeschaffung, der langen Dauer der Zertifizierung von Tests und der traurigen Bilanz der Corona-Warn-App, für die der Bund verantwortlich ist, sollte sich die Kritik des Bundeskanzleramts auf die eigenen Versäumnisse konzentrieren und diese Mängel beheben“, konterte der stellvertretende Ministerpräsident und Landesfamilienminister Nordrhein-Westfalens, Joachim Stamp (FDP), im Gespräch mit WELT.
Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) stieß ins selbe Horn. „Wir setzen die Corona-Maßnahmen um, die vereinbart sind. Auch die Notbremse. Insofern fühle ich mit von der Kritik der Kanzlerin nicht angesprochen“, sagte der Sozialdemokrat WELT. „Die Bundesregierung sollte nicht mit Fingern auf andere zeigen, umgekehrt könnten die Länder darauf hinweisen, dass es mit der Impfstoffbestellung nicht geklappt hat. Das hilft uns nicht weiter, wir müssen nach vorne schauen.“
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), der bislang den harten Lockdown-Kurs der Kanzlerin wegen der hohen Infektionszahlen in seinem Bundesland verteidigt hatte, zeigte sich von Merkels Vorstoß gereizt: Er sei es „wirklich leid, mir anhören zu müssen, was man hätte tun müssen, aber selbst tatsächlich nichts getan hat“. Er ärgere sich „ein bisschen über die Tonart“ Merkels.
Aber die hat trotz ihrer Attacke auch in den Bundesländern Unterstützung. Selbst die – trotz seiner unwirschen Reaktion – von Ramelow. In der Sache steht er nämlich an Merkels Seite. Der Linke-Politiker kann sich durchaus eine bundeseinheitliche Regelung für Corona-Maßnahmen per Gesetz vorstellen; er hat den Bund sogar zum Handeln aufgefordert: „Man kann es im Infektionsschutzgesetz festlegen – ist mir auch recht. Hauptsache, es ist ein einheitlicher Rahmen.“
Auch die Grünen springen Merkel zur Seite. „Die Kanzlerin hat recht, mit dem Virus kann man nicht verhandeln. Nicht alle Länderchefs haben das begriffen“, sagte Sebastian Striegel, Landesvorsitzender der Grünen in Sachsen-Anhalt, WELT. „In Sachsen-Anhalt sehen wir Grünen keinen Raum für weitere Lockerungen. Die Notbremse muss jetzt landesweit konsequent angewendet werden. Bei hohen Inzidenzen in einzelnen Landkreisen sind darüber hinaus zusätzliche Maßnahmen nötig“, sagte Striegel. „Außerdem müssen wir jetzt sofort Distanzunterricht in den Schulen vorbereiten – die Ferien sind Ostermontag zu Ende.“
Steigende Corona-Zahlen lässt Unionsparteien in Umfragen sinken
CDU und CSU schauen mit Sorge auf die Statistiken. Die Corona-Zahlen steigen wieder an, die lassen das in Umfragen nicht unbeantwortet. Die Unionsparteien kommen nur noch auf 25 Prozent der Stimmen.
Quelle: WELT/ Achim Unser
Und im Fall des Infektionsschutzgesetzes geht ausgerechnet der sonst so auf die Unabhängigkeit des Freistaats Bayerns bedachte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) klarer als alle anderen auf Merkels Kurs. Den ARD-„Tagesthemen“ sagte Söder: Er könne sich mehr Kompetenzen in Bundeshand vorstellen, die die Länder zu klaren Regeln zwingen würden.
Zustimmung zum Merkel-Vorstoß auch im Bundestag
Auch im Bundestag können sich einige Abgeordnete für schärfere Bundesvorgaben erwärmen – selbst aus der Unionsfraktion. „In der aktuellen, sehr schwierigen Phase der Pandemie wäre es hilfreich, durch mehr bundeseinheitliche Kriterien und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen die Akzeptanz der Maßnahmen erhöhen“, sagte Fraktionsvize Thorsten Frei (CDU) WELT.
Es gehe folglich darum, „im Gesetz klare und für ganz Deutschland wirkende Wenn-dann-Regelungen zu definieren“. Rechtstechnisch ginge dies nur so, „dass Bundestag und Bundesrat im Bundesinfektionsschutzgesetz noch klarere und enger gefasste Vorgaben machen“.
Diskussion über Ausgangssperren - „Das ist ein Akt von Hilflosigkeit“
Christian Lindner wünscht sich in der Corona-Pandemie eine berechenbarere Strategie der Kanzlerin. Der FDP-Vorsitzende kritisiert den Fokus auf die 7-Tage-Inzidenz und fordert eine stärkere Einbeziehung des Bundestages.
Quelle: WELT
FDP und Grüne im Bundestag unterstützen Merkels Vorstoß nach bundeseinheitlichen Regeln ebenfalls. „Die gesamte Pandemiepolitik muss endlich raus aus dem Hinterzimmer der MPK (Ministerpräsidentenkonferenz, d. Red.) und rein in die Parlamente“, sagte FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae WELT. „Bezüglich des Infektionsschutzgesetzes sollte die Bundeskanzlerin ihre Änderungsvorstellungen konkret benennen.“ Die FDP-Fraktion fordere seit Langem „einen bundesweit einheitlichen gesetzlichen Stufenplan mit klaren ,Wenn-dann-Regeln‘“. Nicht sachgerecht wäre es laut Thomae, „den Bund etwa nur mit mehr Durchgriffsrechten auszustatten oder einen flächendeckenden Lockdown und Ausgangssperren per Gesetz zu verhängen“.
Grünen-Rechtspolitikerin Manuela Rottmann sagte: „Eine bundesgesetzliche Regelung der wesentlichen Fragen der Pandemiebekämpfung ist der verfassungsrechtliche Normalfall.“ Die Grünen sind ohnehin für einen vom Bundestag verabschiedeten Stufenplan. Rottmann: „Es lässt sich verbindlich nur im Infektionsschutzgesetz regeln, welche Maßnahmen bei welcher Pandemieentwicklung getroffen werden können und müssen.“
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