Der Ruf nach einem Neuanfang, nach Transformation, nach „Entfesselung“ hat in der Schlussphase dieses Wahlkampfs eine Kombination wachgeküsst, die eigentlich naheliegt: Rot-Grün-Rot. Das wäre in der Tat etwas radikal Neues, verspräche in der Tat eine große Transformation (ein anderes, für bürgerliche Ohren nicht ganz so abschreckendes Wort für Revolution). Aber was würde dadurch entfesselt?
Die Möglichkeit einer solchen Koalition liegt seit Jahren auch im Bund in der Luft. In den Ländern ist sie spätestens mit Bodo Ramelows Karriere kein allgemeines Schreckgespenst mehr. Im Bund haben alle Beteiligten ihren Frieden damit gemacht – zuletzt die SPD unter Sigmar Gabriel, der in der Bundespartei damit die Wunde verarztete, die Oskar Lafontaine und die Agenda 2010 gerissen hatten. Könnte nun ausgerechnet Olaf Scholz, einer der Architekten der Agenda, der Vollstrecker dieser linken Versöhnung werden?
Es ist sicher zu erwarten, dass er es versucht. Selbst dann, wenn er als Zweiter durchs Ziel läuft. Scholz kokettiert zwar gerne damit, ein Herz für liberal-hanseatisches Unternehmertum zu haben, aber sein Herz für die FDP muss er erst noch entdecken. Was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Die FDP würde sich in einer Ampel-Koalition schon sehr verbiegen, wenn sie einen Mindestlohn von zwölf Euro akzeptieren müsste, Steuererhöhungen nicht verhindern könnte oder die Schuldenbremse aufzuweichen hülfe. Deshalb liegt für sie die Jamaika-Möglichkeit auch dann viel näher, wenn nicht Scholz, sondern Armin Laschet als Zweiter durchs Ziel laufen sollte.
Wer fällt um? Die FDP oder die Linke?
Ansonsten droht der FDP, da hat Dietmar Bartsch recht, der Vorwurf der Wählertäuschung, zumindest aber der „Umfallerpartei“, die im Wahlkampf rechts blinkt, dann aber links abbiegt. Der Spitzenkandidat der Linkspartei muss allerdings selbst dafür sorgen, nicht in einer Umfallerpartei aufzuwachen. Er trimmt sie gerade auf Regierungskurs. Die Regierungsgegner in der Linkspartei geben kaum einen Mucks von sich.
Die NATO-Gretchenfrage wäre für sie eine leichte Vorlage gewesen. Doch die Parteiführung weicht ihr spitzfindig aus: Kein Bekenntnis zur NATO heißt schließlich nicht, dass man auf ihrer Abschaffung besteht. So verschwindet die Außen- und Sicherheitspolitik, bislang die letzte Hürde vor dem rot-grün-roten Schulterschluss, im Nebel der Unverbindlichkeit.
Für Scholz und Annalena Baerbock wäre es sicher angenehmer, wenn sich diese Frage erst am Wahlabend stellte. Denn jetzt stört es ihre Reise in die politische Mitte, also dorthin, wo Wahlen gewonnen werden. Merkels klare Abgrenzung zu Scholz zielte in diese Richtung. Auch für die Grünen war es seit jeher die Achillesferse ihrer Strategie, in die gutbürgerlichen Wählerschichten vorzudringen, die traditionell zur CDU neigten.
Nicht nur ein paar Brötchen
Baerbocks Kanzlerkandidatur stand immer unter diesem Damoklesschwert. Ihre Bewunderer wollen vielleicht eine Transformation, liebäugeln aber nicht mit dem Systemwechsel. Der Schlachtruf der Linken hingegen, man wolle nicht nur ein paar Brötchen, sondern die ganze Bäckerei, wäre die Hefe eines rot-grün-roten Bündnisses.
SPD und Grüne werden den Rest des Wahlkampfs damit zubringen, Kritiker dieser Perspektive als Panikmacher darzustellen. Das müssen sie aus widersprüchlichen Gründen: zur Beruhigung ihrer bürgerlichen Zielgruppen, aber auch zur Beruhigung ihrer Kerntruppen und medial Gewogenen, die beim Gedanken an eine geeinte Linke leuchtende Augen bekommen.
Wo CDU, CSU und FDP unter Entfesselung den Aufbruch in ein neues Wirtschaftswunder rund um Klimaschutz und Bürokratieabbau verstehen, wittern sie die Wiederbelebung neoliberaler Kapitalismusträume, das Gegenteil dessen, was im rot-grünen Milieu unter „großer Transformation“ verstanden wird. Diese Art von Entfesselung besteht aus einer neuen Wirtschaft, einer neuen Gesellschaft und einem neuen Staat, in dem der Klimaschutz als Vehikel altbekannter Ideologien dient. Nicht nur der Linkspartei, auch diesem Teil von SPD und Grünen geht es um die ganze Bäckerei.
Die CDU hat der Arglosigkeit gegenüber entsprechenden Umwälzungen selbst noch Vorschub geleistet. Am Ende der Ära Merkel, die von Scholz gekapert zu werden droht, redet sie neuerdings einer „Revolution“ und einem „Neustaat“ das Wort. Wenn selbst sie es so will, was sollte dann am rot-grün-roten Neustaat so schlimm sein? Dass der in die entgegengesetzte Richtung von Laschet zielt, nämlich in Richtung „Mehrstaat“, dass es vielleicht gar keinen neuen Staat braucht, weil der alte gerade in den vielen Krisen der vergangenen Jahre ganz gut funktioniert hat, das zu erklären ist in diesem Wahlkampf nicht mehr möglich.
Nicht zu spät ist es aber zu erklären, dass sich in einer grün-rot-roten oder rot-grün-roten Koalition die ideologischen Kerne dreier Parteien treffen würden, die alles andere sind, als was ihre Spitzenkandidaten ausstrahlen wollen. Scholz ist das beste Beispiel. Er verkörpert nicht eine lebendige pragmatische SPD. Der Kanzlerkandidat ist deren letztes Brötchen.
Artikel von & Weiterlesen ( In der linken Bäckerei - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung )https://ift.tt/3ndeuPk
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