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Die Reporter-Legende Gerd Ruge ist tot - ein Nachruf - tagesschau.de

Stand: 16.10.2021 16:17 Uhr

Gerd Ruge, WDR-Journalist, Reporter, Weltreisender und Vorbild ganzer Journalistengenerationen, ist tot. Er starb am Freitag mit 93 Jahren in München. Ein Nachruf.

Von Marion Menne

Ein WDR-Treffen zum Kontakte knüpfen im Jahr 2010. Gerd Ruge knabbert Kekse an der Theke und beobachtet den Rummel von Polit-Prominenz und Journaille, in den er geraten ist. "Ach, wissen Sie, ich bin jetzt über 80, ich brauche das nicht mehr", sagt er. So kannten ihn auch die Fernsehzuschauer: zurückhaltend, gelassen, souverän. Am Freitag ist Gerd Ruge im Alter von 93 Jahren in München gestorben.

WDR

Gerd Ruge: Der Erzähler lässt erzählen

"Und, wie ist das Leben?" Mit dieser einfachen Frage in seiner freundlichen Art nähert sich Ruge den Menschen und erzählt selbst, indem er sie erzählen lässt.

Gerd Ruge am Holzzaun der russischen Bäuerin, Gerd Ruge im Schwarzen-Ghetto mit Bürgerrechtlern, Gerd Ruge im Moskauer Stau mit Mikrofon bei offener Bulli-Tür. Er fängt Stimmungen ein wie kein anderer, erzählt gerne große Geschichten anhand der kleinen Leute.

Seine jüngeren Reisereportagen für den WDR "Gerd Ruge unterwegs" sind legendär. Das hellblaue Hemd, die beige Hose und, ja, auch die etwas vernuschelte Sprache werden zu seinen Markenzeichen. Ist Gerd Ruge im Fernsehen, fühlen viele sich gut aufgehoben und folgen ihm gern bis ans Ende der Welt.

Ein "Überbleibsel" der alten Schule

In der heutigen Zeit des kühlen Nachrichtenjournalismus und verbreitet reißerischer Reportagen wirkt Ruge fast wie ein "Überbleibsel" der alten Schule. "Ein Reporter muss sich nicht selbst in den Vordergrund spielen", ist sein Credo.

Was einen guten Reporter ausmacht, muss er oft erklären. "Neugier und gute Füße", vor allem aber solle er "den Wunsch haben, sich emotional zu engagieren", ohne das Engagement zum Fehler zu machen. Er müsse geduldig sein, zuhören können - und im richtigen Augenblick ganz ungeduldig werden und den Beitrag fertigstellen.

Seinen eigenen Erfolg erklärt der gebürtige Hamburger, der 1948 seine journalistische Ausbildung beginnt, auch mit dem Siegeszug des Massenmediums Fernsehen. In den 60er-Jahren habe das Publikum alles aufgesogen, was gesendet wurde. Und das sind auch die Bilder des jungen deutschen Reporters, der zu dieser Zeit Washington-Korrespondent der ARD ist.

Zwei Attentate, viele Emotionen

Ruge 1964 vor dem Capitol in Washington Bild: wdr

Am 16. Juni 1968 sagt ein um Fassung ringender Ruge in die Fernsehkamera: "Sie werden mir verzeihen, dass ich das nicht so geschliffen erzählen kann, das ist alles noch wie ein Alptraum." Das tödliche Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy, den er privat kennt, hat er eben selbst miterlebt.

Die Bilder seines Kamera-Assistenten vom Chaos danach sind auch im US-Fernsehen immer wieder zu sehen. Im selben Jahr berichtet Gerd Ruge von der Ermordung Martin Luther Kings. Er steht auf dem Balkon des Hotelzimmers in Memphis, wo der Bürgerrechtler zuvor erschossen wurde.

Er deutet mit seinem eigenen Körper an, wie King erst über die Brüstung nach vorn taumelte und dann rückwärts zu Boden fiel. Die beiden Attentate, die er so emotional schildert, sind für ihn die einschneidendsten Erlebnisse seines Journalistenlebens, wie er später oft erzählt.

Ruges Karriere begann beim NWDR

Die Ruge-Karriere hat mit einer Ausbildung an der Rundfunkschule des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) begonnen. Schon zwei Jahre später, 1950, kommt der erste große Auftrag für den jungen Redakteur. Er erhält als erster deutscher Journalist ein Visum für Jugoslawien.

1956 geht er - wiederum als erster deutscher Korrespondent - nach Moskau. Seither gibt es kaum ein wichtiges Ereignis auf dem Globus ohne Ruge.

Russland lag ihm am Herzen

Ruge 1987 mit Kollegin Gabriele Krone-Schmalz in Moskau Bild: WDR/Manfred Romboy

Von den vielen Einsatzorten liegt ihm Russland am meisten am Herzen. "Ich mag die Menschen sehr gern. Sie sind zum großen Teil sehr warmherzig, die verrückten Reichen wie die Armen", lautet die Begründung. 14 Jahre verbringt er als Korrespondent in Moskau.

In den Anfangsjahren kommt es zu einer Begegnung, die er bis zum Schluss als persönlichen Höhepunkt bezeichnet: Die Begegnung mit dem russischen Schriftsteller Boris Pasternak. 1957 trifft er ihn in dessen Datscha in einem kleinen Örtchen bei Moskau. Mit diesem gebildeten, offenen Mann habe er zum ersten Mal "das andere Russland" kennengelernt.

Aus beruflichem Interesse wird Freundschaft. Ruge nennt sogar seinen Sohn Boris nach dem Dichter. Pasternak fällt in Moskau in Ungnade und muss später auf Druck des Kremls seinen Literaturnobelpreis abgeben.

Ruge wird wegen des Kontakts mit ihm bespitzelt und verlässt zwei Tage vor seiner Zwangsausweisung Russland, um 30 Jahre später als Leiter des Moskauer ARD-Studios zurückzukehren.

Peking, Bonn, Köln

Gerd Ruge mit Monika Piel (WDR-Intendantin 2007 bis 2013) Bild: WDR/Sachs

In der Zwischenzeit berichtet er unter anderem aus den USA und für die Zeitung "Die Welt" aus Peking, leitet das WDR-Studio Bonn, initiiert den ARD-"Weltspiegel" und ist Chef des Fernsehmagazins "Monitor". Schließlich bekleidet er auch den Posten des Chefredakteurs beim WDR Fernsehen. Am Kölner Schreibtisch hält es ihn jedoch nicht lange.

Nach seiner Zeit als Moskauer Studio-Leiter geht er am 1. September 1993 in den Ruhestand. Mit Auszeichnungen wird er überschüttet. Neben dem Bundesverdienstkreuz bekommt er drei Grimme-Preise und den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.

Amnesty International würdigt ihn im Jahr 2011 zum 50-jährigen Bestehen als Mitbegründer und Pionier der deutschen Abteilung der Hilfsorganisation.

Gerd Ruge privat

Aber Ruhestand? Ist Ruge jemals in Rente? "Nicht so richtig, aber immer mal wieder", sagt er selbst einmal. Er schreibt immer weiter, nimmt die Leser mit auf eine Reise nach Moskau und legt 2013 seine politischen Erinnerungen vor - Titel, natürlich: "Unterwegs".

Manchmal ist er zu Gast in Talkshows, "eine lebende Legende des Metiers", der mit der Abgeklärtheit seiner Erfahrung Ruhe in die aufgeregten Runden bringt. Noch lieber besucht er alte Orte, um zu sehen, was sich verändert hat.

"Als Rentner ist er ein Versager", meint auch Ruges Frau Irmgard Eicher, mit der er bis zu ihrem Tod 2021 in München lebt und gerne zwei Monate im Jahr im eigenen Strandhaus auf Zypern verbringt.

Zum 80. Geburtstag am 9. August 2008 gratuliert ihm der WDR mit einem Porträt, das auch die privaten Seiten der Reporter-Legende zeigen soll. Die Autoren begleiten ihn auf Zypern. Aber der private Ruge entzieht sich. Er sei "höflich, aber unzugänglich", stand schon in seinem Schulzeugnis.

Das Fernseh-Team darf ihn beim Plausch in der Küche seines Lieblingsrestaurants filmen und wie er sich seine drei bis vier Tageszeitungen täglich kauft. Homestorys sind ihm immer zu nah gewesen. Von sich aus gibt er preis, dass er eigentlich Förster werden wollte, die Natur liebt, sich mit Vögeln auskennt und auf dem Wasser entspannt.

Morgens braucht er Kaffee, um wach zu werden, nachdem er nach 60 Jahren - ohne Probleme übrigens - mit dem Rauchen aufgehört hat. Ruge hat drei Mal geheiratet. Boris und die Tochter Elisabeth stammen aus erster Ehe.

Gorbatschow: "Ein Mensch, vor dem man den Hut zieht"

2014 wird Ruge, der bereits mit dem Bundesverdienstkreuz wie auch dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, Ehrenpreisträger des Deutschen Fernsehpreises - als "Reporterlegende", die für "Qualitätsjournalismus par excellence steht", wie es WDR-Intendant Tom Buhrow nennt.

Was er selbst vom Journalismus heute hält, sagt er sehr offen: Die Auslandsberichterstattung im deutschen Fernsehen habe viel Farbe und Emotionen, aber "wenig kühle Analyse". Schon in den 70er-Jahren beklagt er, dass der tagesaktuelle Druck kaum noch Zeit für Analyse und Reflexion lasse.

Zu Ruges Hoch-Zeiten ist auch das Verhältnis zu den Politikern ein anderes. Während heute "das gegenseitige Misstrauen viel größer ist", so Ruges Einschätzung, ist einer wie er oft auch privat mit prominenten Politikern in Kontakt.

Mit Robert Kennedy zum Beispiel oder Michail Gorbatschow. Der sowjetische Staats- und Parteichef hat große Achtung vor seinem Duz-Freund, dem deutschen Korrespondenten, der den Menschen das Ende des Kalten Krieges mit seinen Analysen und Reportagen erklärt. Er sagte einmal: "Gerd Ruge ist ein Mensch hoher Moral. Ein Mensch, vor dem man den Hut zieht."

Anlässlich des Todes von Gerd Ruge ändert der WDR heute das Programm: Um 21.45 Uhr sendet das WDR Fernsehen die lange Gerd Ruge Nacht "In 80 Jahren um die Welt" und im Anschluss eine seiner letzten Reportagen "Gerd Ruge unterwegs – Sommer am Colorado".

Quelle: wdr.de

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