Search

Bis nichts mehr geht - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Die vierte Corona-Welle hat die Krankenhäuser im Süden und Osten des Landes mit voller Wucht erfasst. „Wir befinden uns am Rande des Zusammenbruchs“, sagt Stefan Rath, der Ärztliche Direktor des Donau-Isar-Klinikums in Deggendorf. Aus den anderen Kliniken der Gegend, aus Traunstein, Mühldorf am Inn, Freyung und Sonneberg in Thüringen, klingt es ähnlich: „Es ist wie in einem Albtraum, aus dem man aber nicht aufwacht, sondern es wird immer nur schlimmer.“ „Wir stehen absolut an der Wand. Man kann auch schon sagen, wir sind mitten im Aufprall.“ „Wir kollabieren.“

Die Corona-Patienten belegen die Intensivstationen, oft mehr als zur Hälfte, und viele weitere Betten in den Häusern. Sie sind meist ungeimpft, einige auch jung, unter 40 Jahren, ohne Vorerkrankungen. Für die Krankenhäuser bedeutet das eine komplette Neustrukturierung. Denn ein Corona-Patient braucht eine deutlich längere und genauere Betreuung als ein anderer Patient.

Covid-Patienten belegen zwanzig Prozent der Betten

Er liegt isoliert, das heißt, jeder Pfleger darf nur im Vollschutz an ihn herantreten, mit Haube, Maske, doppelten Handschuhen. Das An- und Ausziehen, die erhöhte Beobachtung bindet Personal. Aber gerade das gibt es nicht. Viele Pfleger haben in den letzten Monaten wegen Überforderung gekündigt, und bei Inzidenzen über 1000 sind viele nun auch selbst erkrankt. Die Kliniken in Sonneberg und Neuhaus versorgten zu Beginn der Woche etwa sechzig Corona-Patienten. Diese Patienten belegten über zwanzig Prozent der Betten, aber banden etwa die Hälfte des noch vorhandenen pflegerischen Personals. Denn ein Drittel war krankgemeldet.

Krankenhäuser schließen ganze Stationen, um deren Pfleger für die Corona-Patienten einzusetzen. Sie ziehen die Anästhesiepfleger aus den Operationssälen ab, denn die haben Erfahrung mit beatmeten und schwer erkrankten Menschen. Alle Operationen, die nicht unbedingt nötig sind, werden abgesagt – sie müssen es sogar, denn es gibt in fünf der sieben Regierungsbezirke Bayerns entsprechende Anweisungen.

Wer keine Lähmung hat, muss auf OP warten

Thomas Ewald, Vorstandsvorsitzender des Innklinikums Altötting und Mühldorf, sagt: „Es wird immer wieder geschrieben, dass das ,verschiebbare Eingriffe‘ seien. Das sind sie eben nicht.“ Es sind die klassischen Eingriffe, wie eine Hüftoperation. Selbst Operationen wegen Tumoren werden verschoben, sofern diese nicht lebensbedrohlich sind. Eine Verschiebung dieser Eingriffe könne daher für manche „langfristig auch negative gesundheitliche Folgen haben“, sagt Ewald.

Einige Krankenhäuser raten ihren Patienten: Suchen Sie sich eine Klinik im Norden Deutschlands, da kriegen Sie noch ein Bett. Stefan Rath aus Deggendorf sagt: „Ich habe genügend Patienten, die sagen: Ich halte diese Schmerzen nicht länger aus, ich halte das nicht aus! Aber solange sie keine Lähmungen haben, kann und darf ich sie nicht operieren.“

Die Chirurgen haben durch die abgesagten Operationen weniger Arbeit und werden in Deggendorf den Internisten auf den Corona-Stationen zur Seite gestellt. „Es geht nicht nur um Betten: Das ganze Gefüge eines Krankenhauses verschiebt sich durch die Pandemie“, sagt Rath.

Notfall, aber kein Notarzt in der Nähe

Noch fällt kein Schnee, gibt es deswegen keine Unfälle. Aber was, wenn ein Notarztwagen hält und alles ist voll? Nicht nur an einem Ort, sondern in der ganzen Region? Viele Ärzte sehen es nur als eine Frage der Zeit an, bis nichts mehr geht. Mühldorf am Inn musste einen Patienten kürzlich bis nach Würzburg verlegen, das liegt 350 Kilometer entfernt. Freyung musste nachts zwei Patienten 300 Kilometer weit fahren.

Thomas Motzek-Noé, der Pandemie-Beauftragte des Krankenhauses, sagt: „Das bedeutet, dass über Stunden dann in einem Gebiet kein Notarzt da ist.“ Auf dem Land ist die Versorgung anders als in der Stadt. Wer in der Zeit einen Herzinfarkt erleidet, muss dann unter Umständen auf einen anderen Notarzt aus 40 Kilometer Entfernung warten. Und wohin der Herzinfarkt-Patient dann gebracht werden soll, ist völlig unklar.

Wissen war nie wertvoller

Lesen Sie jetzt F+ 30 Tage kostenlos und erhalten Sie Zugriff auf alle Artikel auf FAZ.NET.

JETZT F+ LESEN

„Wenn meine Intensivstation voll ist und ich einen neuen Notfall bekomme, überlege ich, wen ich stattdessen runternehmen kann. Und das ist dann vielleicht jemand, dem es schon wieder besser geht, der aber lieber noch ein bis zwei Tage auf der Intensiv gelegen hätte. Ich nehme also dann das Risiko in Kauf, dass er sich deswegen womöglich wieder verschlechtert“, sagt Rath.

Er hat in dieser Woche eine E-Mail vom Klinikkoordinator der Region bekommen, in der die Häuser gebeten werden, diejenigen, die sich mit Katastrophenmedizin auskennen, ausfindig zu machen, um sich gemeinsam in einem Meeting auszutauschen. Rath sagt: „Wenn ich mir die Inzidenz jetzt anschaue, dann weiß ich, dass der Weg von der Individualmedizin zur Katastrophenmedizin vielleicht schon an diesem Wochenende beginnt. Wir müssen uns dann überlegen, wen wir nicht mehr weiterbehandeln zugunsten eines anderen mit vermeintlich besseren Aussichten.“

„Es war noch nie so schlimm wie jetzt.“

Einige Kliniken haben die Bevölkerung dazu aufgerufen mitzuhelfen. Auch die Bundeswehr ist im Einsatz oder angefragt. In Traunstein möchte man mit ihrer und der Hilfe von Rettungsdiensten leicht erkrankte Corona-Patienten pflegerisch versorgen.

Die Kliniken loben durchweg ihr Personal, es seien motivierte, kreative und hochprofessionelle Mitarbeiter. Und einige sind auch noch hoffnungsvoll, dass sie die Situation irgendwie meistern werden. Aber der Frust gegenüber der Politik ist sehr groß: Sehenden Auges sei man in diese Katastrophe geschlittert. Während sich Kliniken darauf vorbereiteten, wo man Feldbetten aufschlagen könne, notfalls auch in Turnhallen, werde bloß debattiert statt zu entscheiden.

Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, sagte am Donnerstag, es bestünde derzeit „wohl nicht die Gefahr, dass die Kliniken in ihrer Gesamtheit an ihre Leistungsgrenze stoßen“. Motzek-Noé aus Freyung sagt dazu: „Das ist falsch. Es war noch nie so schlimm wie jetzt.“ Er sei ein Optimist. Aber was er gerade erlebe, das sei der Kollaps eines Gesundheitssystems, das er zu den besten der Welt zähle. „Es dauert nicht mehr lange, und dann hat es auch andere Regionen in Deutschland erreicht. Es wird ein ganz furchtbares Weihnachtsfest, an das wir uns noch lange erinnern werden.“

Adblock test (Why?)

Artikel von & Weiterlesen ( Bis nichts mehr geht - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung )
https://ift.tt/3oQwD4R
Deutschland

Bagikan Berita Ini

0 Response to "Bis nichts mehr geht - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung"

Post a Comment

Blogger news

Powered by Blogger.