WELT: Herr Kubicki, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat die Fraktionen ermahnt, „dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss, um den Eindruck zu vermeiden, Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative“. Eine späte Erkenntnis, oder?
Wolfgang Kubicki: Ja. Wir diskutieren über diese Frage ja schon seit geraumer Zeit im Präsidium des Deutschen Bundestages. Durch den erheblichen Druck der Gerichte war es jetzt allerdings überfällig geworden, dass Wolfgang Schäuble sich so dezidiert äußert. Die Rechtsprechung hat uns mehrfach darauf hingewiesen, dass der Bundestag sich angesichts der massiven Grundrechtseinschränkungen, die wir seit Monaten erleben, nicht mehr zurücknehmen kann. Es gilt der Satz des Bundesverfassungsgerichts: Wesentliche Entscheidungen dieser Art müssen im Parlament getroffen – und damit auch öffentlich und ausführlich debattiert werden.
WELT: Schäuble spricht verharmlosend von einem „Eindruck“. Es ist doch Fakt, dass der Bundestag sich aus dem Spiel genommen hat.
Kubicki: Ja, das ist so. Aber man muss auch verstehen: Wolfgang Schäuble ist nach wie vor ein herausragendes Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – und natürlich in besonderer Weise auch der Kanzlerin gegenüber verpflichtet. Ich finde es deshalb schon beeindruckend, dass er sich nun in dieser Art und Weise öffentlich an die Fraktionen gewandt hat. Und dass er gleichzeitig eine Stellungnahme der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags beigefügt hat, aus der ziemlich deutlich hervorgeht, dass das Parlament jetzt handeln und entscheiden muss.
WELT: Teilen Sie die Empfehlungen des Gutachtens, wonach das Infektionsschutzgesetz konkretisiert werden muss, es klarer Befristungen von staatlichen Maßnahmen bedarf und der Bundestag am Erlass von Rechtsverordnungen beteiligt werden muss?
Kubicki: Ich gehe sogar noch darüber hinaus. Maßnahmen wie Beherbergungsverbote oder Reisebeschränkungen sind überhaupt nur aufgrund eines Gesetzes möglich. Das geht nicht über das Infektionsschutzgesetz und die Ermächtigungsnorm für Verordnungen der Länder. Weil es um massive Grundrechtseingriffe geht, muss das Parlament diese Entscheidungen selbst treffen.
Und noch viel wichtiger ist: Wir brauchen die streitige Debatte im Plenum über die Pandemie-Maßnahmen, weil nur so der Eindruck widerlegt werden kann – und der verbreitet sich zunehmend –, dass Entscheidungen allein in Regierungshinterzimmern ausgekungelt werden. Wir müssen den Verschwörungstheoretikern den Boden entziehen, und das geht nur über die offensive parlamentarische Beratung.
WELT: Mittlerweile teilen alle Fraktionen im Bundestag diese Erkenntnis – mit Ausnahme der Union.
Kubicki: Auch dort reift die Erkenntnis. Es ist doch auch nicht mehr zu ignorieren. Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz hat gerade erklärt, dass die Verfassungsgerichte der Länder demnächst wegen fehlender gesetzlicher Grundlagen verschiedene Maßnahmen von Bundes- und Landesregierungen verwerfen werden. Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen.
Es treibt mich wirklich um, das wir schon rund 60 Entscheidungen von Ober- und Verfassungsgerichten haben, die im Eilverfahren staatliche Maßnahmen für verfassungswidrig erklärt haben. Das sind zehn pro Monat – in einem Rechtsstaat eigentlich ein undenkbarer Vorgang. Darauf muss der Bundestag reagieren, wenn nicht der Eindruck entstehen soll, wir seien nur noch ein Feierabendparlament zum Abnicken von Entscheidungen, die anderswo ausgeheckt werden.
WELT: Das Gesundheitsministerium hat vorigen Freitag einen Gesetzentwurf vorgelegt, wonach seine Kompetenzen unbefristet verlängert werden sollen. Dort ist Ihre Sorge offenbar nicht angekommen.
Kubicki: Das ist der Versuch des Ministeriums, die Ausnahmetatbestände, die am 31. März 2021 auslaufen, mit einer Ewigkeitsklausel zu versehen. Dem werden wir uns als Freie Demokraten mit allem, was rechtlich und politisch möglich ist, entgegenstellen. Es kann nicht sein, dass die erste Gewalt des Staates auf diese Art und Weise ausgehebelt wird. Ich verstehe ja, dass den Bürokraten das Parlament und öffentliche Debatten lästig sind.
Aber in einem demokratischen Gemeinwesen ist die öffentliche Debatte, und das ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das Nonplusultra. Sonst verliert die Demokratie ihre Bindungswirkung.
WELT: Warum leidet der Bundestag eigentlich an diesem mangelnden demokratischen Selbstvertrauen? Wir haben schon in der Euro-Währungskrise erlebt, dass das Bundesverfassungsgericht die Abgeordneten energisch an ihre Rechte und Pflichten erinnern musste.
Kubicki: Ich bedauere das. Nun ist der Bundestag keine homogene Einrichtung, sondern besteht aus regierungstragenden und Oppositionsfraktionen. Und immer dann, wenn wir auf Wahlen und Listenaufstellungen zugehen, ist die mentale Stärke des einen oder anderen Abgeordneten etwas begrenzt. Weil er darauf achten muss, wieder aufgestellt zu werden. Aus persönlichen Gründen mag das verständlich sein. Aber diese Kollegen verkennen die Funktion, die sie innehaben. Wenn sie die nicht erfüllen, wird das Ansehen des Parlaments massiv leiden – und damit auch das seiner Mandatsträger.
WELT: Fühlen Sie sich durch das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste auch in Ihrer Privatfehde mit Herrn Söder bestärkt?
Kubicki: Das ist keine Privatfehde. Ich habe Verständnis dafür, dass der bayerische Ministerpräsident immer sehr breitbeinig auftreten will. Nur kann er nicht nachweisen, dass er mit seinen Maßnahmen das Infektionsgeschehen besser im Griff hat als andere – im Gegenteil. Ein Ministerpräsident, der die höchsten Infektionszahlen und die höchsten Todesraten zu verantworten hat, sollte anderen keine Ratschläge erteilen.
Er sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, die Lage in seinem eigenen Land besser unter Kontrolle zu bekommen. Herr Söder ist hemdsärmelig, was ich grundsätzlich mag. Aber er muss wissen: Auf einen groben Klotz gehört auch ein grober Keil. Er muss sich daran gewöhnen, dass er nicht nur austeilen kann, sondern auch einstecken muss.
WELT: Die FDP hat er beim Austeilen besonders auf dem Kieker.
Kubicki: Wahrscheinlich steckt dahinter die Idee, die auch Volker Kauder früher immer verfolgte. Wenn es CDU und CSU gelingt, so die Überlegung, die FDP unter die Fünf-Prozent-Hürde zu drücken, dann hätten sie die realistische Möglichkeit, vielleicht wieder größere eigene Mehrheiten zu gewinnen. Ich halte das in der Analyse für falsch. Unabhängig davon werden wir bei der nächsten Bundestagswahl dokumentieren, dass wir aus eigener Kraft unsere Stärke vom letzten Mal wiederholen.
WELT: Rechnen Sie damit, dass Sie Herrn Söder im Wahlkampf als Kanzlerkandidat begegnen?
Kubicki: Eher nicht. Wir hatten in der Vergangenheit zwei Beispiele für Kanzlerkandidaten aus der CSU, die beide dramatisch gescheitert sind: Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber. Und was die Umfragen angeht: Herr Söder wird nur so lange beliebt sein, bis er Kanzlerkandidat ist. Danach wird alles, was in der Vergangenheit über ihn zu finden ist, in die Waagschale geworfen, um ihn als Kanzler zu verhindern. Ich glaube, er hat in Berlin keine Chance – und weiß das auch. Er stellt sich in Bayern so breitbeinig auf, um zu dokumentieren: Es gibt auch noch ein anderes Machtzentrum, nicht nur Berlin.
Artikel von & Weiterlesen ( Kubicki zu Corona: „Söder hat die höchsten Todesraten zu verantworten.“ - WELT )https://ift.tt/34dObhY
Deutschland
Bagikan Berita Ini
0 Response to "Kubicki zu Corona: „Söder hat die höchsten Todesraten zu verantworten.“ - WELT"
Post a Comment