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AfD & Bundestagswahl: Gefangen in der Selbstlähmung - WELT

Die Maschine der Aufmerksamkeitserregung läuft immerhin. In Thüringen sorgt für Aufsehen, dass die AfD-Landtagsfraktion ihren Chef Björn Höcke per konstruktivem Misstrauensvotum zum Ministerpräsidenten als Nachfolger von Bodo Ramelow (Linke) wählen lassen will.

Die AfD-Bundestagsfraktion hat eine Sondersitzung des Parlaments zur Flutkatastrophe beantragt. Und wenn das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch über die Intervention von Bundeskanzlerin Angel Merkel (CDU) nach der Thomas-Kemmerich-Wahl in Thüringen 2019 verhandelt, erhält eine hiergegen gerichtete AfD-Organklage Prominenz.

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All das kann der AfD Nachrichten bescheren, Tweets und Posts. Aber was ihr abseits kurzfristiger Effekt-Produktion im Bundestagswahlkampf an längerfristiger Themensetzung möglich ist, erschließt sich auch intern kaum jemandem.

In schon zwei bundesweiten Umfragen in die Einstelligkeit abgerutscht – nach 12,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2017 –, hat die AfD zunächst damit zu kämpfen, dass ihr bisher zugkräftigstes Thema Migration in der Wahrnehmung nach hinten gerückt ist.

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Zudem hat sie bei ihrem aktuellen Versuch, nach den verheerenden Sturzfluten durch Vorwürfe wegen mangelnden Katastrophenschutzes zu punkten, Konkurrenz von FDP und Linker. Bei ihren Forderungen nach Aufhebung fast aller Corona-Schutzmaßnahmen hängt der AfD an, dass viele in der Partei die Voraussetzung weitgehender Lockerungen, das Impfen, unter Verdacht stellen.

EU-Austritt Deutschlands? Alles andere als ein Wahlkampfschlager

Als regelrechter Rohrkrepierer erweist sich das thematische AfD-Eigengewächs des „Dexits“. Die Wahlprogramm-Forderung nach einem Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union halten Parteichef Jörg Meuthen und weitere AfD-Europaabgeordnete für falsch.

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Aber der andere Parteichef – und Spitzenkandidat – Tino Chrupalla verficht den Dexit. Wobei Chrupalla als „Vision“ für einen „Neustart“ nach einem Ende der EU in der „Jungen Freiheit“ ein „Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ anpries. Eine solche „eurasische“ Gemeinschaft wird seit Jahren in Russland und Deutschland von rechtsradikalen bis -extremen Feinden des westlichen Liberalismus angepriesen.

Wie fern Chrupalla westlichen Konzepten steht, gab er vor einigen Wochen in Moskau zu erkennen, als er bei einer „Sicherheitskonferenz“ die „Reeducation“ der West-Alliierten nach 1945 als „psychologische Kriegsführung“ bezeichnete und in die Nähe der NS-Propaganda während des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion rückte. Meuthen nannte Chrupallas Rede im ZDF-Sommerinterview „unklug“.

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Nicht gerade ein Ausweis wahlkämpferischer Geschlossenheit war in dem Interview auch, dass Meuthen Distanz zu mehreren Bundestagsabgeordneten und -kandidaten seiner Partei signalisierte, darunter Stephan Brandner und Jürgen Pohl aus Thüringen und Christina Baum aus Baden-Württemberg.

Die Bundestagsabgeordneten Stephan Brandner (l.) und Jürgen Pohl (r.) im Mai bei einem Gespräch mit Höcke
Die Bundestagsabgeordneten Stephan Brandner (l.) und Jürgen Pohl (r.) im Mai bei einem Gespräch mit Höcke
Quelle: pa/dpa/Michael Reichel

Über den sächsischen Kandidaten Andreas Harlaß (Landeslistenplatz fünf) sagte Meuthen: „Ich hätte Herrn Harlaß meine Stimme nicht gegeben“; über den Bundestagsabgeordneten Jens Maier, dass dieser mit einigen „Sprüchen was verkehrt macht“.

Am Dienstag erntete Meuthen dafür heftige innerparteiliche Kritik. Mitglieder der sächsischen Landesgruppe in der AfD-Bundestagsfraktion veröffentlichten eine Presseerklärung, in der der sächsische Bundestagsabgeordnete Chrupalla nicht genannt wird. Darin heißt es, dass Meuthen mit seinem Auftreten im ZDF „seinem Amt in keinster Weise gerecht geworden“ sei. Er habe „die unzähligen ehrenamtlichen Wahlkämpfer desavouiert“ und der AfD im Bundestagswahlkampf „einen Bärendienst“ erwiesen.

Der sächsische AfD-Bundestagskandidat Andreas Harlaß
Der sächsische AfD-Bundestagskandidat Andreas Harlaß
Quelle: pa/dpa/dpa-Zentral/Sebastian Kahnert

Meuthen trage daher „im Falle eines enttäuschenden Wahlergebnisses die zumindest mittelbare Verantwortung“. Die sechs Unterzeichner „empfehlen“ ihm, „sich komplett aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und seine ganze Kraft dem Mandat in Brüssel zu widmen“.

Dutzende Parteifreunde fordern Weidel auf, sich zu erklären

Außer sächsischen AfD-Mitgliedern hatte Meuthen aber auch Parteifreunde im Südwesten attackiert: So bekundete er „Bedenken“ bei der Frage, ob er im baden-württembergischen Wahlkreis seines Wohnorts dem AfD-Direktkandidaten Taras Maygutiak aus der Anhängerschaft des offiziell aufgelösten AfD-Flügels im September seine Erststimme geben werde.

Der Name Maygutiak dürfte aber auch bei Meuthens innerparteilicher Widersacherin Alice Weidel Bedenken auslösen. Denn Maygutiak zählt zu den 58 Unterzeichnern eines an Weidel gerichteten Briefes, in dem Mitglieder der Südwest-AfD die Landeschefin, Bundestagsfraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin im Zusammenhang mit deren Spendenaffäre auffordern, „weiteren Schaden von der Partei abzuwenden“, wie es in dem Schreiben heißt, das WELT vorliegt.

„Erklären Sie sich“, verlangen die Unterzeichner von Weidel, „erklären Sie den Mitgliedern ausführlich, was es mit dieser Parteispende auf sich hatte, nennen Sie Ross und Reiter, und vor allem erklären Sie den Mitgliedern, wie Sie gedenken, für den der Partei entstandenen finanziellen Schaden Verantwortung zu übernehmen.“

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In Weidels Spendenaffäre hatte das Berliner Verwaltungsgericht Mitte Juni eine AfD-Klage gegen eine von der Bundestagsverwaltung verhängte Sanktionszahlung in Höhe von fast 400.000 Euro abgewiesen. Die Sanktion bezog sich darauf, dass 2017, als Weidel Spitzenkandidatin im damaligen Bundestagswahlkampf war, bei ihrem Kreisverband Bodensee rund 132.000 Euro in 17 Einzelüberweisungen aus der Schweiz als „Wahlkampfspende Alice Weidel Socialmedia“ eingegangen waren.

Weil hierbei offensichtlich Strohmänner eingesetzt worden waren, hinter denen nach staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen der deutsch-schweizerische Milliardär Henning Conle gestanden haben dürfte, wurde die erst Monate später zurücküberwiesene Gesamtspende von der Bundestagsverwaltung als illegal bewertet.

Die AfD hingegen argumentierte in ihrer Klage, das Geld sei eine persönliche Zuwendung an Weidel und damit legal gewesen. Gegen die Abweisung dieser Klage durch das Berliner Gericht will die Partei nun in Revision gehen, wie der Bundesvorstand am Montag nach WELT-Informationen beschloss.

Aber in der Südwest-Partei sind viele von der Rechtsauffassung Weidels und der Bundesspitze gar nicht überzeugt. Direkt nach dem Berliner Urteil beklagten die baden-württembergischen AfD-Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel und Thomas Seitz sowie der Bundestagskandidat Hansjörg Schrade laut MDR in einem Brief, dass sich die Verteidigungsstrategie der AfD wie schon bei vorangegangenen Spendenaffären darauf konzentriere, „die beteiligten Personen zu schützen, nicht das Vermögen der AfD“.

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Vom Verdacht der Vertuschung war die Rede. Auf diese und andere Vorwürfe reagierten alsbald Weidel und der Landvorstand mit heftiger Gegenkritik. Und darauf antworteten dann die 58 Unterzeichner des erwähnten Schreibens, dass Weidels „unprofessioneller Umgang“ mit der Spende eine „grundsätzliche Bedeutung“ habe.

Faktisch steht Weidel damit ähnlich stark unter innerparteilichem Druck wie Chrupalla. Allerdings verlaufen die ideologischen Fronten in Weidels Fall anders, weil bei der Spendenaffäre viele ihrer Kritiker – aber längst nicht alle – dem Rechtsaußen-Lager zuzurechnen sind.

Das wiederum ermöglicht Gegenschläge: In auffälliger zeitlicher Nähe zum Spendenstreit um Weidel beschloss kürzlich der baden-württembergische Landesvorstand, dass eine Anwaltskanzlei prüfen solle, ob gegen einen der prominentesten Weidel-Kritiker, den Bundestagsabgeordneten Dirk Spaniel, wegen des Vorwurfs von Kontakten zu Rechtsextremen Parteiordnungsmaßnahmen irgendwo zwischen Abmahnung und Rauswurf verhängt werden könnten.

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel (AfD)
Der AfD-Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel (AfD)
Quelle: pa/dpa/Bernd von Jutrczenka

Auch das wirft ein interessantes Licht auf den AfD-Wahlkampf, steht Spaniel doch auf Platz drei der dortigen Landesliste.

Die Rohrböck-Affäre

Zusätzlich angeheizt werden die Auseinandersetzungen dadurch, dass derzeit gerade in Baden-Württemberg viele AfD-Funktionäre einander verdächtigen, einträgliche Kontakte zu einem dubios wirkenden Mann namens Tom Rohrböck gehabt zu haben.

Wie „Zeit“, NDR und WDR berichteten, lud Rohrböck Weidel im November 2017 in ein Luxushotel ein und bezahlte dort ihre Übernachtung sowie ihr Essen und ihre Getränke. Aber auch viele andere Mandats- und Funktionsträger der Partei sollen mit Rohrböck zu tun gehabt haben, der laut AfD-Bundesschatzmeister Carsten Hütter „Einfluss auf die Entscheidungen von Mandatsträgern zu nehmen versucht“ habe. Auch im Vorfeld von Vorstandswahlen in Landesverbänden soll Rohrböck mitgemischt haben.

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Die Affäre ist noch lange nicht aufgeklärt und sorgt gerade in besonders zerstrittenen AfD-Landesverbänden wie dem baden-württembergischen für große Unruhe.

Angesichts solcher Selbstlähmung im Wahlkampf kann das aktuelle Unterfangen von Björn Höcke in Thüringen geradezu als Kontrastprogramm durchgehen. Zwar ist auszuschließen, dass er bei dem Misstrauensvotum im Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt wird.

Aber schon eine oder zwei Ja-Stimmen oder auch nur Enthaltungen von Abgeordneten außerhalb der AfD-Fraktion dürften von ihm als Triumph gewertet werden. Und als indirekter Kommentar zu den bundespolitischen AfD-Defiziten bei Selbstbewusstsein und Geschlossenheit kann gelten, was Höckes Unterstützer Stephan Brandner zu den Thüringer Plänen für ein Misstrauensvotum twitterte: „Richtig: Agieren (und regieren) statt reagieren!“

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„Machtwechsel“ ist der WELT-Podcast zur Bundestagswahl – mit Dagmar Rosenfeld und Robin Alexander. Jeden Mittwoch. Abonnieren unter anderem bei Apple Podcasts, Spotify, Amazon Music, Deezer oder per RSS-Feed.

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