Wie viel die Hochwassergebiete im Westen Deutschlands verloren haben, man kann es anhand von Beispielen erahnen: Sieben Bahnbrücken überquerten bis vor Kurzem die Ahr in Rheinland-Pfalz, doch nun sind sie "nicht mehr vorhanden", wie der zuständige Zweckverband feststellt. In Blessem bei Köln stand bis vor Kurzem eine Burg, doch nun sind Teile des Hofguts in einen Krater gestürzt, der die Siedlung bedroht. Zu lange hatte das Regentief "Bernd" vorige Woche stabil über Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gestanden, zu schnell waren die Pegel der Ahr oder der Erft auf bisher ungekannte Höhen gestiegen.
Das ist zuvorderst eine humanitäre Katastrophe. Allein im Kreis Ahrweiler sind mehr als 110 Menschen gestorben, die nicht rechtzeitig in höhere Geschosse fliehen konnten oder deren Häuser weggerissen wurden. Noch am Wochenende kreisten Hubschrauber über dem Ahrtal, Rettungskräfte am Boden haben mehr und mehr Orte komplett abgesucht. Tausende Menschen kamen zunächst in Betreuungsstellen unter, bei Bekannten oder freiwilligen Helfern.
Doch immerhin fallen seit dem Wochenende die Pegel - nicht nur der Ahr oder der Erft, sondern auch des Rheins, in den beide Flüsse münden. Je mehr sich das Wasser zurückzieht, desto sichtbarer werden die Schäden an Häusern und Privatbesitz, an Betrieben und Infrastruktur.
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft will in dieser Woche eine erste Schadensprognose abgeben. Klar ist: Das Unwetter wird die Branche Milliarden kosten. "Es zeichnet sich ab, dass sich dieses Jahr mit Stürmen, Überschwemmung, Starkregen und Hagel zu einem der schadenträchtigsten seit 2013 entwickeln könnte", sagt Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen. Bereits im Juni hatten Starkregen und Hagel einen versicherten Schaden von etwa 1,7 Milliarden Euro verursacht.
Die Versicherer spüren seit Jahren, dass Unwetter und extreme Regenfälle in Deutschland zunehmen. Das Jahr 2013 galt bisher als besonders schlimm: Damals hatten Überschwemmungen, Hagelstürme wie "Manni" oder "Norbert" und Sturmtiefs wie "Andreas" oder "Bernd" Schäden von etwa sechs Milliarden Euro verursacht.
Viele Betroffene sind nicht versichert gegen Hochwasserschäden
In dem von der jetzigen Hochwasserkatastrophe am stärksten betroffenen Kreis Ahrweiler, den Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag besuchte, sind Hunderte Gebäude zerstört. Das Wasser riss parkende Autos mit, schwemmte sie durch die Straßen, drückte sie an Hauswände. Die Menschen an der Ahr sind zwar Hochwasser gewohnt, sie kennen vollgelaufene Keller. Doch in der Nacht zu Donnerstag stand der Pegel mindestens drei Meter höher als das bisherige Rekordniveau von 2016. "Viele Menschen im Kreis haben alles verloren", sagt Landrat Jürgen Pföhler. Und längst nicht alle Haushalte im Westen Deutschlands haben den nötigen Versicherungsschutz.
So deckt die Wohngebäude- beziehungsweise Hausratversicherung Schäden durch Hochwasser oder Erdrutsche nur ab, wenn die Besitzer zusätzlich eine Elementarschadendeckung abgeschlossen haben. Das ist in Nordrhein-Westfalen bei 47 Prozent der Gebäude der Fall, in Rheinland-Pfalz bei 37 Prozent.
Regelmäßig diskutiert die Politik darüber, ob die Elementardeckung nicht eine Pflichtversicherung werden sollte. Die Versicherer sind dagegen, denn dann müssten sie alle Kunden akzeptieren - auch in Hochrisikogebieten. Zudem befürchten die Anbieter, dass der Staat bei einer Pflichtdeckung Preise und Bedingungen diktieren könnte. Nach dem Hochwasser von 2013 konnte die Branche eine Pflichtversicherung abwehren, politische Vorhaben verliefen im Sand. Doch ob ihr das abermals gelingen wird, ist fraglich. Gerade die CDU gilt gegenüber Versicherern als längst nicht mehr so freundlich eingestellt wie früher.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat Flutopfern staatliche Hilfe in Aussicht gestellt. "Es braucht einen nationalen Kraftakt", sagt der Kanzlerkandidat der SPD der Bild am Sonntag. Das Kabinett könnte am Mittwoch zunächst eine Soforthilfe auf den Weg bringen. "Bei der letzten Flut waren dafür deutlich mehr als 300 Millionen Euro nötig", so Scholz. "Da wird jetzt sicher wieder so viel gebraucht." Danach brauche es ein Aufbauprogramm, um Häuser, Straßen und Brücken zügig zu reparieren. "Wie wir von der vorherigen Katastrophe wissen, geht es um Milliarden Euro", sagt der Minister.
In Nordrhein-Westfalen hat die landeseigene Förderbank zudem Kredite für Sanierungen verbilligt. Wer Gebäude nach dem Unwetter instand setzen muss, kann über die Hausbank Kredite zu 0,01 Prozent Zinsen beantragen. Darüber hinaus sammeln sowohl Länder als auch Kreise und Gemeinden Spenden für Menschen in Not.
Bis die Stromnetze wieder aufgebaut sind, vergehen Monate
Ein Blick ins Ahrtal zeigt freilich auch, wie sehr die öffentliche Hand selbst Geschädigte der Fluten ist. Allein im Kreis Ahrweiler seien zehn weiterführende Schulen überschwemmt, sagt Landrat Pföhler. Die eingestürzte Straßenbrücke über die Ahr, die kaputte Feuerwehr am Ufer: Pföhler muss Teile seiner Kreisstadt neu aufbauen.
Auch an einen Bahnverkehr ist in der Region erst einmal nicht zu denken. "Die Wassermassen haben Gleise, Weichen, Signaltechnik, Bahnhöfe und Stellwerke in vielen Landesteilen von NRW und Rheinland-Pfalz stark beschädigt", teilt die Deutsche Bahn mit. Die Eifelstrecke von Köln nach Trier sowie die Ahrtalbahn von Remagen nach Ahrbrück werden voraussichtlich auf Monate gesperrt bleiben, kündigt der zuständige Zweckverband an. Alleine an der Ahr wurden 20 Kilometer Streckengleis zerstört. Mehrere Züge sind durch das Hochwasser "auf Monate unbrauchbar".
Die Fluten haben auch Teile der Infrastruktur beschädigt, die der Privatwirtschaft gehört. Beispielsweise drang Wasser aus dem überschwemmten Flüsschen Inde in den Braunkohletagebau Inden bei Aachen ein, Kraftwerksblöcke stehen vorerst still. Der Betreiber RWE erwartet Dutzende Millionen Euro Schaden. Stromversorger melden zudem, dass das Hochwasser Umspannwerke und Netzstationen überflutet und Teile davon zerstört hat. Zeitweise waren 200 000 Menschen im Westen Deutschlands ohne Strom. Wo sich das Wasser zurückgezogen hat, reparieren Betreiber nun die Anlagen oder bauen Notsysteme auf. Es werde Monate dauern, bis die Infrastruktur wieder so hergestellt sei wie vor dem Hochwasser, kündigt der Versorger Eon an.
Auch in Mobilfunkstationen und Verteilerkästen von Telekommunikationsunternehmen drang Wasser ein und zerstörte Teile der Netztechnik. Die Deutsche Telekom und Vodafone ließen am Wochenende mobile Antennenstationen und Ersatztechnik mit Schwertransporten in die Eifel liefern, um wenigstens den Handyempfang wiederherzustellen.
Versicherungen haben längst noch keinen Überblick über die Schäden
Wer dieser Tage durch den Schlamm im Rotweinstädtchen Bad Neuenahr-Ahrweiler geht, der sieht freilich auch die vielen Schäden, die außerhalb großer Konzerne zu beklagen sind: Ein angeschwemmter Baum hat die Scheiben des Garni-Hotels am Flussufer demoliert, Vorhänge flattern aus dem Frühstückssaal. Gaststätten, die nach dem jüngsten Corona-Shutdown auf das Sommergeschäft gehofft hatten, finden ihre Tische, Stühle und Blumentöpfe im Schlamm der Altstadt wieder, aus der das Wasser inzwischen abgelaufen ist.
Auch Firmen müssen in der Regel Zusatzdeckungen abschließen, damit sie gegen die Elementargefahr Überschwemmung versichert sind. Neben Sachschäden kommt es sie auch teuer zu stehen, wenn sie den Betrieb unterbrechen müssen. "Im Industriekundengeschäft laufen für das aktuelle Unwetter ständig neue Schadenmeldungen ein", heißt es vom Versicherer HDI. Teilweise bestehe noch gar kein Kontakt zu den Kunden, teilt der Versicherungsmakler Ecclesia mit, weil Kommunikationsnetze unterbrochen seien oder man die Betroffenen noch nicht besuchen könne.
Schon während der Corona-Krise hat das Ansehen von Industrie- und Gewerbeversicherern gelitten. Etliche Anbieter verweigerten Zahlungen an Gaststätten oder Hotelbetriebe, die monatelang schließen mussten, um Infektionen zu vermeiden. Noch immer streiten sich viele Versicherungen darum mit ihren Kunden vor Gericht. Fachleute warnen die Branche davor, nach dem Unwetter nun ähnlich rigide vorzugehen - wenn es etwa darum geht, welche Beweise Unternehmen für Schäden sichern müssen: Sollten Versicherer dabei auf jedes Detail bestehen, drohe ihnen ein ähnlicher Imageschaden wie während der Pandemie.
Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer findet in ihrer Fernsehansprache am Wochenende treffliche Worte. "Diese Naturkatastrophe können wir nur gemeinsam bewältigen", so die SPD-Politikerin, "genauso wie die Corona-Pandemie."
Artikel von & Weiterlesen ( Hochwasser in Rheinland-Pfalz und NRW: Schneisen der Verwüstung - Süddeutsche Zeitung - SZ.de )https://ift.tt/2UnCCmm
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