Mit dem Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan rücken die islamistischen Taliban immer weiter vor und erobern zahlreiche Gebiete. Die Meldungen im Überblick:
Deutschland schiebt vorerst keine Menschen mehr nach Afghanistan ab. "Der Bundesinnenminister hat aufgrund der aktuellen Entwicklungen der Sicherheitslage entschieden, Abschiebungen nach Afghanistan zunächst auszusetzen", sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur.
Eine in der vergangenen Woche verschobene Abschiebung von sechs Afghanen wird zunächst nicht mehr nachgeholt. Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich seit der Entscheidung über den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan Mitte April dramatisch verschlechtert. Die militant-islamistischen Taliban haben inzwischen wieder neun Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle gebracht.
Der Schritt ist eine Kehrtwende Seehofers. Der deutsche Innenminister hatte sich erst kürzlich zusammen mit seinen Amtskollegen aus Österreich, Dänemark, den Niederlanden, Belgien und Griechenland mit einem einen Brief an die EU-Kommission gewandt. Darin warnten die Minister davor, Abschiebungen auszusetzen. Denn das würde "das falsche Signal senden und wahrscheinlich noch mehr Afghanen motivieren, ihre Heimat in Richtung EU zu verlassen", heißt es in dem dreiseitigen Schreiben.
Die in Kabul vertretenen EU-Botschafter hatten sich erst am Dienstag für einen Abschiebestopp ausgesprochen. Darunter war auch der deutsche Vertreter, der damit eine andere Position als Innenminister Seehofer einnahm. Auch 26 Organisationen, darunter Amnesty International, Pro Asyl, Caritas und die Diakonie plädierten in einer gemeinsamen Erklärung für einen Stopp. "Deutschland darf die Augen vor der sich immer weiter verschlechternden Lage in Afghanistan nicht verschließen und muss alle Abschiebungen einstellen", steht in dem Appell. "Rechtsstaat heißt, dass menschenrechtliche Prinzipien eingehalten werden." Das völkerrechtliche Nichtzurückweisungsgebot, das aus dem absoluten Folterverbot abgeleitet werde und das Abschiebungen bei zu erwartenden schwersten Menschenrechtsverletzungen verbiete, gehöre dazu: "Dieses Abschiebungsverbot gilt unabhängig von individuellem Verhalten."
Flughafen und große Militärbasis bei Kundus an Taliban gefallen
Die Taliban haben in der Großstadt Kundus im Norden Afghanistans nun auch den Flughafen und eine große Militärbasis erobert. Das bestätigten Provinzräte und Sicherheitskreise am Mittwoch. In der Basis waren im Vorjahr noch rund hundert deutsche Soldaten stationiert gewesen.
Die wichtigsten Regierungseinrichtungen in Kundus waren bereits am Sonntag von den Taliban erobert worden. Sicherheitskräfte und lokale Regierungsvertreter flohen daraufhin zum Flughafen und in die Basis des 217. Armeekorps in der Nähe. Aus Sicherheitskreisen hieß es, die Islamisten hätten seit Sonntag die Basis und den Flughafen angegriffen und seien dabei vergleichsweise langsam, aber stetig vorgegangen. (11.08.2021)
Bericht: US-Geheimdienste rechnen mit baldigem Fall von Kabul
Angesichts des schnellen Vormarsches der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan könnte die Hauptstadt Kabul nach einem Zeitungsbericht viel früher in die Hände der Aufständischen fallen als bisher von den USA angenommen. In 30 bis 90 Tagen könnte die Stadt zusammenbrechen, berichtet die Washington Post unter Berufung auf nicht genannte Quellen in den US-Geheimdiensten.
Noch im Juni hatten US-Geheimdienstmitarbeiter die Lage so eingeschätzt, dass Kabul in einem Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten nach dem Abzug des US-Militärs unter Kontrolle der Taliban geraten könnte. "Alles bewegt sich in die falsche Richtung", zitierte die Washington Post einen Experten, der mit der neuen militärischen Einschätzung vertraut ist. (11.08.2021)
Biden: Afghanen müssen selbst gegen die Taliban kämpfen
Der Vormarsch der militant-islamistischen Taliban ist nach Ansicht der US-Regierung nunmehr ein Problem der Afghanen. Angesichts des weitgehend abgeschlossenen Abzugs der internationalen Truppen sagte US-Präsident Joe Biden, die Afghanen müssten nun "selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen". Ihre Streitkräfte seien den Taliban militärisch überlegen, auch in Bezug auf die Truppenstärke. "Aber sie müssen auch kämpfen wollen", sagte Biden im Weißen Haus.
Der US-Präsident appellierte an die politische Führung in Kabul, an einem Strang zu ziehen. Wörtlich sagte er: "Ich glaube, sie beginnen zu verstehen, dass sie an der Spitze politisch zusammenkommen müssen." Biden versprach, die USA würden die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin finanziell und militärisch unterstützen. Er werde jeden Tag über die Lage unterrichtet.
Mit Blick auf den von ihm angeordneten Abzug der US-Soldatinnen und -Soldaten fügte der Präsident hinzu: "Aber ich bedauere meine Entscheidung nicht." Zum Zeitpunkt der Entscheidung hatten die USA noch etwa 2500 Soldaten in Afghanistan. Inzwischen ist der Abzug zu mehr als 95 Prozent abgeschlossen. Die Streitkräfte hätten inzwischen Material ausgeflogen, das der Ladung von etwa 984 Transportflugzeugen vom Typ Boeing C-17 entspräche, erklärte das US-Militär. Bis zum Monatsende soll der Abzug komplett beendet sein. Die Bundeswehr und die Soldaten anderer Nato-Staaten haben Afghanistan bereits verlassen.
Bidens Sprecherin Jen Psaki sagte, die US-Regierung werde die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin finanziell unterstützen. Für das kommende Jahr seien dafür im Haushaltsentwurf 3,3 Milliarden US-Dollar (2,8 Milliarden Euro) eingeplant. Biden habe den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan befohlen, weil das ursprüngliche Ziel des Einmarschs vor fast 20 Jahren - das Zurückschlagen der Terrorgruppe al-Qaida - längst erreicht sei. "Er hat als Oberbefehlshaber entschieden - und das sind schwierige Entscheidungen", sagte Psaki. (11.08.2021)
Weitere Provinzhauptstadt fällt an Taliban
In Afghanistan haben die militant-islamistischen Taliban eine weitere Provinzhauptstadt eingenommen. Die 250 000-Einwohner-Stadt Pul-i Chumri in der Provinz Baghlan im Norden des Landes fiel am Dienstag an die Islamisten, wie drei Provinzräte bestätigten. Damit ist nun der Landweg zwischen der Hauptstadt Kabul in die nördliche Stadt Masar-i-Scharif abgeschnitten. Insgesamt haben die Islamisten bereits neun Provinzhauptstädte unter Kontrolle.
Dem Provinzrat Firusuddin Aimak zufolge verließen die Regierungskräfte am Dienstagabend die Stadt ohne weiteren Widerstand. Mehrere Kommandeure und andere Behördenvertreter hätten Pul-i Chumri bereits vor zehn oder 15 Tagen verlassen und angekündigt, die Islamisten von einem anderen Weg aus anzugreifen. Die zurückgebliebenen Kräfte hätten noch ein paar Tage standgehalten, sich nun aber in eine Militärbasis außerhalb zurückgezogen.
Pul-i Chumri liegt an einer wichtigen Überlandstraße zwischen Kabul nach Masar-i-Scharif, wo die Bundeswehr bis vor kurzem noch einen Stützpunkt hatte. Die Stadt ist die zweitgrößte Stadt im Nordosten des Landes nach Kundus. (10.08.2021)
Nato ruft Taliban zu Stopp ihrer Angriffe auf
Die Nato bewertet den gewaltsamen Vormarsch der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan als besorgniserregend. Das hohe Maß an Gewalt der Taliban bei ihrer Offensive, darunter Angriffe auf Zivilisten und Berichte über Menschenrechtsverletzungen, sehe man mit "tiefer Sorge", teilte ein Nato-Offizieller mit. Die Taliban müssten verstehen, dass die internationale Gemeinschaft sie nie anerkennen werde, wenn sie den politischen Prozess verweigerten und das Land mit Gewalt erobern wollten. "Sie müssen ihre Angriffe beenden und redlich an Friedensgesprächen teilnehmen."
Der Konflikt lasse sich nicht militärisch lösen, hieß es weiter. Ein Friedensprozess unter afghanischer Führung müsse eine Waffenruhe und eine politische Lösung vorantreiben. Diese müsse insbesondere die Menschenrechte von Frauen, Kindern und Minderheiten wahren sowie sicherstellen, dass Afghanistan "nie wieder zum sicheren Hafen für Terroristen" würde. Die Nato rufe alle regionalen Akteure dazu auf, konstruktiv dazu beizutragen, da alle von einem sicheren und stabilen Afghanistan profitieren würden.
Die USA dringen auf eine politische Lösung. Der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad sei nach Katar abgereist, um "die Taliban zur Beendigung ihrer Militäroffensive und zu Verhandlungen über eine politische Lösung zu bewegen", erklärte das US-Außenministerium. In den für drei Tage angesetzten Gesprächen wollen die USA mit Vertretern von Ländern in der Region sowie mit multilateralen Organisationen auf eine Verringerung der Gewalt und einen Waffenstillstand hinarbeiten und sich dazu verpflichten, keine mit Gewalt durchgesetzte Regierung anzuerkennen, hieß es. Khalilzad handelte maßgeblich die Modalitäten des Abzugs der US-Truppen mit den Taliban aus. (10.08.2021)
Scholz: Bundesregierung sucht Lösungen für afghanische Ortskräfte
Die Bundesregierung bemüht sich nach Aussage von Vizekanzler Olaf Scholz darum, afghanische Helfer der Bundeswehr und ihre Familien schneller vor dem gewaltsamen Vormarsch der Taliban zu retten. "Wir diskutieren, ob es Möglichkeiten gibt, den Transport zu beschleunigen, um die Betroffenen schneller auszufliegen", sagte der SPD-Kanzlerkandidat der Neuen Osnabrücker Zeitung. Es liefen intensive Bemühungen. "Das kann Deutschland aber nicht alleine entscheiden, da geht es um eine enge Abstimmung mit der afghanischen Regierung." Kanzlerin Angela Merkel hatte mehr Unterstützung für die Ortskräfte in Aussicht gestellt und unter anderem Charterflüge ins Gespräch gebracht, um Helfer mit ihren Familien auszufliegen.
Kritiker werfen Deutschland derweil weiter vor, den Helfern, auf die die Bundeswehr bei ihrem Einsatz angewiesen war, nicht schnell genug zu helfen. "Die halbherzige Unterstützung der Bundesregierung für afghanische Ortskräfte, die die Bundeswehr in ihrem 20-jährigen Einsatz tagtäglich unterstützt haben, ist beschämend", sagte FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff der Welt.
Die Taliban, die von 1996 bis zur US-geführten Intervention 2001 weite Teile Afghanistans unter ihrer Kontrolle hatten, erobern derzeit eine Provinzhauptstadt nach der anderen - darunter auch Kundus, wo die Bundeswehr jahrelang einen großen Stützpunkt hatte. Die Bundeswehr hatte Ende Juni nach fast 20 Jahren die letzten Soldaten aus Afghanistan abgezogen. Die US-Streitkräfte sollen bis Ende August das Land verlassen.
Den Vorschlag eines weiteren Militäreinsatzes, wie ihn der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen am Wochenende ins Spiel gebracht hatte, lehnt Scholz ab. "Einen weiteren Militäreinsatz in Afghanistan halte ich für unangezeigt", sagte er der NOZ. "Nach 20 Jahren hat sich die internationale Gemeinschaft gerade zurückgezogen. National wie international gibt es keinerlei Bestrebungen für einen abermaligen Einsatz." Das Bundesverteidigungsministerium hatte solche Überlegungen zuvor ebenfalls zurückgewiesen. (10.08.2021)
Artikel von & Weiterlesen ( Afghanistan: Deutschland setzt Abschiebungen aus - Süddeutsche Zeitung - SZ.de )https://ift.tt/3jNhe2p
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