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Gibt es wirklich keinen Rassismus gegen Weiße? - Berliner Zeitung

Berlin - Selten reden Menschen so systematisch aneinander vorbei wie beim Thema „Rassismus gegen Weiße“. Denn der Streit darüber, ob es diesen gibt, dreht sich nicht um Fakten, sondern um Definitionen. Und die neue Definition, die Rassismus nur in einer Richtung zulässt, entspricht nicht dem, was die meisten Menschen meinen, wenn sie von „Rassismus“ sprechen.

In den letzten Tagen haben alte Tweets von Sarah-Lee Heinrich, der neu gewählten Bundesvorsitzenden der Grünen Jugend, diese Formel „Rassismus gegen Weiße“ wieder einmal zum Twitter-Trend gemacht. Diese Tweets, erwartbar ausgegraben von Gegnern der Grünen, waren größtenteils Niveaulosigkeiten einer damals um die 14-Jährigen aus dem Jahr 2016. Vieles davon kann man als verzeihliches jugendliches Unsinnreden abhaken. Dazu gehören aber nicht Heinrichs Einlassungen über Rassismus und weiße Menschen, denn dabei geht es nicht nur um sie, sondern um eine Ideologie, die weiter verbreitet ist und an Einfluss gewinnt.

Sawsan Chebli sagt, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße

Zu den jetzt skandalisierten Äußerungen gehört etwa die Formulierung „eklig weiße Mehrheitsgesellschaft“, die Heinrich 2019 in einer Talkrunde des öffentlich-rechtlichen Online-Senders „funk“ verwendet hat. Dazu gab sie anschließend eine Erklärung ab, in der sie die Wortwahl bedauerte, ihre Aussage aber bestärkte, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft Nichtweiße rassistisch ausschließe. Einige der Jugend-Tweets schlugen in eine ähnliche Kerbe. In einem bekundete Heinrich, sie wolle eines Tages mit einem Besen „alle weißen Menschen aus Afrika herauskehren“. In einem anderen hieß es: „Ich hasse die Gesamtheit der weißen Menschen, die davon profitieren, dass mein Heimatkontinent ausgeraubt wurde“. In noch einem anderen kündigte sie an, sich nach Afrika abzusetzen, „um ein Leben mit netten, nicht rassistischen Menschen zu führen“ (Rechtschreibung korrigiert).

Für manche liegt es nahe, diese Äußerungen als rassistisch einzuordnen. Andere finden das unmöglich. Die SPD-Politikerin Sawsan Chebli twitterte: „Hab in meinem Freundeskreis immer wieder Diskussionen über das Thema Rassismus. Es gäbe auch Rassismus gegen Weiße. Sie würden angefeindet, gehasst, mancherorts benachteiligt werden. Stimmt und ist nicht hinnehmbar, ist aber kein Rassismus.“ Dazu verlinkte sie einen Kommentar im Tagesspiegel aus dem Sommer 2020 mit der unmissverständlichen Überschrift: „Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße“. Darin heißt es etwa, sogar die deutsche Botschaft in Kamerun habe einmal „die Mär vom ‚umgekehrten Rassismus‘“ verbreitet, als sie Bundesbürgern in dem afrikanischen Land riet, zu Hause zu bleiben, da ihnen in der Öffentlichkeit Gefahr durch „rassistische Ressentiments“ drohe.

Sarah-Lee Heinrichs Aussagen werden als erledigt betrachtet

Hier springt zweierlei ins Auge. Erstens: dass wir es nicht mit strittigen Fakten zu tun haben, obwohl die Wortwahl („es gibt keinen ...“) diesen Eindruck erweckt. Diejenigen, die meinen, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße, bestreiten nicht, dass Weiße gelegentlich Abwertung und Anfeindung aufgrund der Hautfarbe erfahren. Der Tagesspiegel-Kommentar bestreitet nicht, dass zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt Weiße in Kamerun aufgrund ihrer Ethnizität Angst haben mussten, auf die Straße zu gehen. Nur sorgt sich der Verfasser weniger über diese Bedrohungslage und die Feindseligkeit dahinter als über die Möglichkeit, dass jemand „Rassismus“ dazu sagen könnte.

Diese Sorglosigkeit ist das zweite, was an obigen Beiträgen auffällt. Die Auskunft, es gebe keinen Rassismus gegen Weiße, hat rhetorisch den Charakter einer Entwarnung. Sie besagt sinngemäß: „Wenn das Rassismus wäre, wäre es schlimm, doch zum Glück ist es keiner, also können wir zur Tagesordnung übergehen.“ Und wie das Kameruner Beispiel zeigt, hat das entscheidende Kriterium für die Entwarnung weniger damit zu tun, was passiert, als damit, wem es passiert. Ebenso in der aktuellen Situation. Es ist unstrittig, dass Sarah-Lee Heinrich Feindseligkeiten gegen weiße Menschen geäußert hat. Doch mit der Feststellung, dass es sich dabei nicht um Rassismus handle, wird das Thema als erledigt betrachtet.

Ein Wort ist keine Gleichsetzung

Gelegentlich dient auch Einordnung, das Wort „weiß“ stehe für ein „soziologisches Konstrukt“ oder Ähnliches, als Rechtfertigung offener Feindschaft bis hin zu Dämonisierung und Vernichtungswünschen, die dann gegen das „Weißsein“ oder die „Whiteness“ gerichtet werden. Nach dem Motto: Es gehe ja nicht um Menschen, sondern um ein Prinzip, eine Haltung – oder auch eine Krankheit. So erschien im Mai in der Fachzeitschrift des amerikanischen Psychoanalytiker-Verbandes ein Fachartikel mit dem Titel „On Having Whiteness“, demzufolge man „Weißsein hat“ wie ein Leiden, für das „weiße Menschen besonders anfällig“ seien. Darin heißt es: „Parasitäres Weißsein macht die Gelüste des Wirts gierig, unersättlich und pervers.“ Bislang, so der Autor, gebe es keine Heilung.

Warum soll es nun keinen Rassismus gegen Weiße geben? Als mittlere Linie der Begründungen zeichnet sich ab, dass Rassismus ein Herrschaftssystem von Weißen über Nichtweiße sei, das von Europäern und Amerikanern errichtet wurde und immer noch existiere oder zumindest nachwirke. Im Rahmen dieses Herrschaftssystems ist Rassismus die Unterdrückung, die die Herrschenden den Beherrschten antun, und logischerweise können diese den Spieß nicht einfach umdrehen – das hat Herrschaft so an sich.

Rassismus für die Erklärung von Ungleichheiten nur untergeordnet wichtig

Das ist erst einmal schlüssig. Doch es ist fraglich, wie weit die Gültigkeit dieser Gesamtdeutung in der Gegenwart wirklich reicht. Wenn man automatisch jede Ungleichheit im sozialen Status von Weißen und Nichtweißen auf Rassismus zurückführt, sieht man unvermeidlich rassistische Gesellschaften vor sich. Doch das ist ein Kurzschluss, der im Licht überprüfbarer Tatsachen nicht gerechtfertigt ist.

Auf Basis umfassender Recherchen und Datenanalysen stellte zuletzt etwa die Commission on Race and Ethnic Disparities der Britischen Regierung im Frühjahr fest, dass heutigem Rassismus bei der Erklärung bestehender Ungleichheiten im Vereinigten Königreich nur eine untergeordnete Bedeutung zukomme. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass der Erfolg unterschiedlicher Einwanderergruppen in westlichen Ländern stark unterschiedlich ausfällt und manche davon sogar bessergestellt sind als die berüchtigten weißen Männer. Allgemein wirken bereits Sprachbarrieren für viele Einwanderer als Aufstiegshemmnisse. Sie mögen ein Problem sein, das Aufmerksamkeit verdient, aber sie sind kein Rassismus.

Relativ unbedeutender Rassismus bleibt Rassismus

Doch auch wenn die besagte Gesamtdeutung richtig wäre, bedeutete das nicht, dass der Rassismusbegriff nur in einer Richtung angewandt werden könnte. Denn es stimmt nicht, dass man eine Gleichheit zwischen allen Gruppen behauptet, indem man sagt, Rassismus komme in alle Richtungen vor.

Mit dem Wort „Gewalt“ etwa benennen wir alles Mögliche von der Ohrfeige bis zum Genozid, ohne dass jemand klagen würde, man setze eine Ohrfeige mit einem Genozid gleich. Jeder weiß, dass die eine Form von Gewalt unendlich viel schwerwiegender ist als die andere, und niemand leugnet es durch die Anwendung des Begriffs auf beides, denn der Begriff ändert durch den Kontext seine Bedeutung.

Genau so könnte man auch sagen, der Rassismus, der von Weißen ausgeht, sei historisch gewachsen, institutionell verfestigt und schädlicher, weil er mit Macht ausgestattet sei, während sonstiger Rassismus relativ machtlos und unbedeutend sei. Aus der Asymmetrie folgt nicht, dass man dem relativ unbedeutenden Rassismus diese Bezeichnung verweigern müsste. Die eine Feindseligkeit zu verschweigen, weil die andere größer ist, ergäbe nur dann einen Sinn, wenn die gegenseitigen Feindseligkeiten einander wegkürzten und nicht multiplizierten.

Die Äußerungen rassistisch zu nennen, ist keine Relativierung der Sklaverei

Der Gegeneinwand wäre, dass aber gerade der historische Hintergrund, die institutionelle Verfestigung und die Machtüberlegenheit den Kern des Begriffs „Rassismus“ ausmachten, sodass, wenn diese Aspekte nicht gegeben seien, es eben kein Rassismus sei.

Es geht hier also um eine Definitionsfrage. Wenn man Rassismus als – grob gesprochen – Abwertung und Anfeindung aufgrund der Hautfarbe definiert, gibt es Rassismus gegen Weiße. Wenn man die Definition dagegen an der spezifischen Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei des Westens festmacht, gibt es ihn nicht. Wir müssen uns also für eine Definition entscheiden. Dabei sind zwei Fragen relevant. Erstens: Welche Definition herrscht im allgemeinen Sprachgebrauch vor? Zweitens: Welche ist sinnvoller?

Ein Großteil der Argumente für den Standpunkt „Es gibt keinen Rassismus gegen Weiße“ scheitert bereits an der Antwort auf die erste Frage. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter Rassismus, grob gesprochen, Abwertung und Anfeindung aufgrund der Hautfarbe verstanden. Etwas anderes zu unterstellen ist absurd. Wenn ein normaler Mensch Äußerungen wie die von Sarah-Lee Heinrich rassistisch nennt, behauptet er damit selbstverständlich nicht, Afrikaner hätten in der Vergangenheit Europa kolonisiert (statt umgekehrt) und „Kartoffel“ genannt zu werden sei ähnlich schlimm wie Sklaverei.

Das Entscheidende wird unsichtbar und unsagbar

Doch solche Behauptungen unterstellt ihm etwa der Tagesspiegel, wenn er denjenigen, die von Rassismus gegen Weiße sprechen, „Geschichtsrevisionismus“ vorwirft. Akademiker-Aktivisten haben unter sich eine neue Definition festgelegt und unterstellen der ganzen Sprachgemeinschaft nun, diese neue Definition im Sinn zu haben, wenn sie den Begriff benutzt. Auf dieser Basis wird den Sprechern dann entgegengehalten, sie wüssten nicht, wovon sie reden, oder Schlimmeres. Doch wenn weder Sprecher noch Zuhörer eine solche Umkehrung der Geschichte und Machtverhältnisse mit dem Begriff verbinden, dann hat er in ihrer Kommunikation faktisch nicht diese Bedeutung. Somit entfällt der wichtigste Grund dafür, ihn dort nicht zu erlauben.

Die Idee, zwischen – salopp gesagt – Rassismus von oben und Rassismus von unten zu unterscheiden, ist an sich nicht unsinnig. Es fehlt aber eine geeignete sprachliche Lösung dafür, die mehr erhellen als verdunkeln würde. Wie soll man ethnisch begründete Feindseligkeiten gegen Weiße nennen? Eine Umschreibung, wie ich sie gerade gebraucht habe, ist zu umständlich, um eine Chance zu haben. Zudem fehlt ihr die moralische Verurteilung, die mit dem Rassismusbegriff einhergeht und von Sprechern üblicherweise auch gewollt ist. Sie trifft insofern die Sache nicht.

„Diskriminierung“ wird gelegentlich vorgeschlagen. Doch „Diskriminierung“ sagt nichts über das Merkmal aus, nach dem diskriminiert wird. „Rassische Diskriminierung“? Nein, das würde den Rassebegriff reaktivieren. „Rassistische Diskriminierung“? Verboten, weil „Rassismus“ darin steckt. Außerdem ist „Diskriminierung“ grundsätzlich milder als „Rassismus“. Was aber, wenn es um einen Mord geht? Sollen wir einen Mord unter „Diskriminierung“ einordnen? Chebli spricht von „Anfeindung, Hass, Benachteiligung“. Auch diese Alternativen sagen nichts über das Merkmal aus, an dem sich diese Phänomene festmachen. Das Entscheidende wird unsichtbar und unsagbar.

Heinrichs Unterstützer legitimieren ihre Tweets

Die Sprachgemeinschaft hält das Wort „Rassismus“ bereit, um es zu benennen und universell zu verurteilen, wenn Menschen andere Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeiten abwerten, stereotypisieren oder schädigen. Wir haben keinen alternativen Begriff, der diesen Gehalt transportieren würde. Geht es um Weiße als Betroffene, sollen wir nun um diese empirische und moralische Essenz des Problems herumreden wie die Katze um den heißen Brei – oder sie schlicht verschweigen. Angenommen, es gäbe wirklich ein Problem beispielsweise mit Mobbing gegen weiße Schüler auf manchen Schulhöfen – wie stehen die Chancen, dass es thematisiert wird, wenn der dafür zentrale Begriff tabu ist und jeder, der ihn zu benutzen wagt, niedergebrüllt wird?

Die Antwort ist an der Heinrich-Affäre abzulesen. Die Stoßrichtung der Feststellung, ihre Feindseligkeit gegen Weiße sei kein Rassismus, ist nicht: „Wir nehmen sie als Problem ernst, ordnen sie aber begrifflich anders ein.“ Sondern: „Man muss nicht gerade das Wort ‚eklig‘ gebrauchen, aber in der Sache hat sie völlig recht.“

Sebastian Wessels wurde 1976 in Bremen geboren und hat in Hannover sowie Cardiff (Wales) Sozialwissenschaften studiert. Nach einem Zwischenspiel als Journalist und Online-Redakteur folgte eine Doktorandentätigkeit in einem Forschungsprojekt zur psychischen Autonomie des Individuums und 2016 die Promotion in Soziologie. Im Januar 2021 erschien sein Buch „Im Schatten guter Absichten: Die postmoderne Wiederkehr des Rassendenkens“, worin er den Standpunkt vertritt, dass die heute populären postmodernistisch und identitätspolitisch geprägten Strategien gegen Rassismus diesen vielmehr vermehren, als zu seiner Überwindung beizutragen. Wessels lebt und arbeitet als freiberuflicher Texter, Übersetzer und Autor in Berlin.

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.

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