Stand: 19.10.2021 05:00 Uhr
Die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. steht vor Gericht, weil sie den Massenmord im Konzentrationslager Stutthof unterstützt haben soll. Was sagt die Angeklagte zu den Vorwürfen? NDR.de konnte umfangreiche Ermittlungsunterlagen einsehen.
Der Prozess gegen die 96 Jahre alte Irmgard F. vor dem Landgericht Itzehoe soll heute im zweiten Anlauf beginnen. Zum eigentlichen Prozessbeginn am 30. September war die Angeklagte nicht erschienen.
Irmgard F. muss sich wegen Beihilfe zum Mord in 11.380 Fällen und Beihilfe zum versuchten Mord in sieben Fällen verantworten. Als Sekretärin des Kommandanten des Konzentrationslagers (KZ) Stutthof bei Danzig sollen über ihren Schreibtisch Dokumente zum systematischen Mord gegangen sein. Wie sich die Angeklagte eingelassen habe, wollte der Sprecher der Staatsanwaltschaft in einer Pressekonferenz am ersten Prozesstag Ende September nicht sagen.
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Nach Recherchen des NDR hat sich Irmgard F. 2017 umfassend gegenüber den Ermittlern geäußert. Auch als ihr am 30. September der Haftbefehl eröffnet wurde, sagte F. zu den Vorwürfen aus.
Mehrmals als Zeugin vernommen
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde F. mehrfach von Ermittlungsbehörden vernommen. Diese Aussagen machte F. jedoch als Zeugin. Weil sie nicht als Beschuldigte belehrt wurde, können diese Aussagen im Strafverfahren gegen sie nicht ohne Weiteres verwendet werden.
Wohl zum ersten Mal sagte F. im September 1954 zum KZ Stutthof aus. Damals gab sie zu Protokoll, dass sie Mitte 1943 als Stenotypistin in das KZ kam und im Geschäftszimmer des Kommandanten Paul Werner Hoppe gearbeitet habe. Durch ihre Hände, so beschrieb sie es damals gegenüber einem Ermittlungsrichter, der sie als Zeugin vernahm, sei der gesamte Schriftverkehr mit dem SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt gegangen. Auch Fernschreiben und Funksprüche habe der KZ-Kommandant diktiert. Auch die eingehende Post ging über das Geschäftszimmer, sagte F. aus.
Dokumente über Vergasungen von Menschen seien ihr nicht bekannt geworden. Dass im Lager Häftlinge vergast wurden, habe sie nicht gewusst. Aber ihr Vorgesetzter Hoppe habe in einigen Fällen Exekutionen beantragt, erinnerte sie sich. An die Begründungen würde sie sich zwar nicht mehr erinnern, aber die Häftlinge hätten sich angeblich etwas zuschulden kommen lassen. Über die Exekutionen sei unter dem Personal auch gesprochen worden.
Auch im Prozess gegen ihren Vorgesetzten Hoppe sagte F. als Zeugin aus. Hoppe wurde 1957 vom Landgericht Bochum zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt, die er jedoch nicht vollständig absitzen musste.
Im Jahr 1964 wurde F. erneut als Zeugin in einem Verfahren befragt, außerdem äußerte sie sich gegenüber einem Staatsanwalt in einem Schreiben 1966 zu ihrer Tätigkeit im KZ. Das Krematorium des Konzentrationslagers habe sie aus der Entfernung gesehen, sagte sie in einer Vernehmung im April 1982. Ermittler des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen befragten F. damals auch zu den SS-Männern im Lager, mit denen F. angeblich kaum Kontakt gehabt habe.
Ermittlungen laufen seit 2016
Die Staatsanwaltschaft Itzehoe ermittelte seit 2016 gegen Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord im KZ Stutthof. Im Februar 2017 besuchten ein Itzehoer Staatsanwalt, eine Beamtin des Landeskriminalamtes aus Kiel und ein Beamter die Beschuldigte in ihrem Zimmer in ihrem Pflegeheim in Quickborn (Kreis Pinneberg). Knapp drei Jahre zuvor war F. von Schleswig in das Heim gezogen.
Gegenüber den Ermittlern äußerte F. vor allem ihr Unverständnis über die Vorwürfe. Die Ermittlungen bezeichnete F. laut eines Vermerks des Staatsanwalts mehrmals als lächerlich. Sie verstehe nicht, was ein solches Verfahren am Ende ihres Lebens bringe, sagte die damals 92-Jährige. Auch nachdem der Staatsanwalt ihr erklärte, dass die späten Ermittlungen aufgrund einer geänderten Rechtsauffassung stattfänden, konnte F. den Vorwurf der Beihilfe zum Mord nicht nachvollziehen. Sie habe ein reines Gewissen und niemanden getötet, sagte sie. Bei der Durchsuchung ihres Zimmers fanden die Beamten keine Beweise wie etwa alte Unterlagen. Diese seien, so erklärte F., bei ihrem Umzug ins Heim vernichtet worden.
Auch im Gespräch mit dem NDR: "Habe nichts gewusst"
Als Irmgard F. Ende 2019 von einem NDR Reporter im Pflegeheim besucht wurde, bestätigte sie auch hier, dass sie im KZ Stutthof tätig war. Damals lief noch das Ermittlungsverfahren gegen sie. F. glaubte nicht daran, dass sie sich für ihre Tätigkeit in Stutthof vor Gericht verantworten müsste. Von Mordtaten habe sie nichts gewusst. Ihr Bürofenster, erklärte F. dem NDR, habe in die vom Lager abgewandte Richtung gezeigt. Von der Tötungsmaschinerie, der während ihrer Dienstzeit nur wenige Meter von ihr Zigtausende Menschen zum Opfer fielen, habe sie nichts gewusst.
Die jüngsten Äußerungen von Irmgard F.
Nachdem F. am ersten Prozesstag, dem 30. September 2021, geflohen war, hatte das Landgericht Itzehoe die 96-Jährige von der Polizei suchen lassen. Polizeibeamte nahmen die Angeklagte in Hamburg fest und führten sie dem Landgericht Itzehoe vor.
In der nichtöffentlichen Sitzung machte F. nach NDR Informationen auch Angaben zu dem Tatvorwurf. Sie habe im KZ Stutthof nur in der Verwaltung gearbeitet, sagte sie dem Gericht. Dabei habe sie sich nichts zuschulden kommen lassen. Sie sei unschuldig, beteuerte die ehemalige KZ-Sekretärin. Häftlinge des Lagers habe sie gar nicht gesehen.
Sie sei dienstverpflichtet worden und habe im KZ Stutthof arbeiten müssen. Das Lager habe sie auch nicht betreten, erklärte die Angeklagte dem Gericht. Lagerkommandant Hoppe sei immer ganz menschlich zu ihr gewesen, sagte F. am Abend nach ihrer Flucht. Die 96-Jährige wies auch darauf hin, dass sie bereits bei Verfahren in der Vergangenheit ausgesagt habe. Wieso hätte man sie dann dort nicht festgenommen, wollte F. wissen.
Verteidigung zweifelt Tatverdacht an
Ihr Verteidiger Wolf Molkentin zweifelte im Zuge der Eröffnung des Haftbefehls daran, dass überhaupt ein dringender Tatverdacht gegen seine Mandantin wegen Beihilfe zum Mord bestehe. Damit ein Gericht einen Verdächtigen in Untersuchungshaft nehmen kann, bedarf es laut Gesetz einen dringenden Verdacht, dass der Beschuldigte die Tat begangen hat.
U-Haft wegen Unwillens zum Prozess zu erscheinen
Weil F. erklärte, sie werde auch zu weiteren Prozesstagen nicht erscheinen, schickte das Gericht die Rentnerin zunächst in Untersuchungshaft. Vier Tage später gab die Strafkammer einer Haftbeschwerde von F.s Verteidigern statt und setzte den Haftbefehl außer Vollzug. Nun will das Gericht mithilfe einer "elektronischen Sicherungsmaßnahme", etwa einer Fußfessel, sicherstellen, dass die Angeklagte zum Prozess kommen wird.
Die beiden Verteidiger von Irmgard F. wollten auf NDR Anfrage zu den bisherigen Äußerungen ihrer Mandantin keine Stellung nehmen. Im Rahmen der Hauptverhandlung werde man sich zur Anklage äußern.
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