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Gesellschaftspolitik: Gar nicht so wenig Revolution | ZEIT ONLINE - ZEIT ONLINE

Gar nicht so wenig Revolution – Seite 1

Das mit den Finanzen wird schwierig, das mit dem Klimaschutz auch: Schon bevor die Ampelkoalition stand, war klar, dass die Parteien in vielen Bereichen nur schwer zueinander finden würden. Gesellschaftspolitisch hingegen gab es schon früh Konsens: Denn hier stehen sich FDP und Grüne erstaunlich nahe, beide Parteien sehen sich als Vertreterinnen einer progressiven Gesellschaft. Und tatsächlich: Auf manchen Feldern verspricht der Koalitionsvertrag eine kleine Revolution. 

Der neue Familienbegriff

Familienpolitik in Deutschland, das hieß bislang oft: Politik für Vater, Mutter, Kind. Zwar stand schon im 2018 geschlossenen Vertrag der Großen Koalition: "Wir schreiben Familien kein bestimmtes Familienmodell vor. Wir respektieren die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens." Der Ansatz der Ampelkoalition ist aber noch grundlegender, sie weitet den Familienbegriff nicht nur, sondern definiert ihn neu: "Familie ist vielfältig und überall dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen", steht im Papier, sogar fast wortgleich an zwei Stellen. Wichtiger als die Begrifflichkeiten sind die Gesetzesänderungen, die damit einhergehen. Die angehende Regierung hat sich vorgenommen, das Familienrecht zu modernisieren – und liefert dazu sehr konkrete Vorschläge. 

Grundsätzlich soll es einfacher werden, dass Menschen gegenseitig rechtlich Verantwortung füreinander übernehmen – auch jenseits von Ehe und leiblicher Elternschaft. So will die Ampel zum Beispiel das sogenannte kleine Sorgerecht ausbauen. Das betrifft bislang vor allem Patchworkfamilien: Wenn Paare heiraten, erhalten sie ein Mitentscheidungsrecht für die Kinder, die die andere Person in die Ehe mitbringt. Die Ampelkoalition will es Elternteilen ermöglichen, dieses Recht auch auf soziale Eltern zu übertragen: auf bis zu zwei nahestehende Menschen, mit denen sie sich aber eben nicht in einer Ehe oder Liebesbeziehung befinden müssen. 

Neben der Ehe will die Ampel eine neue Partnerschaftsform einführen: die Verantwortungsgemeinschaft. Die sollen zwei oder mehr volljährige Personen eingehen können und damit rechtliche Verantwortung füreinander – im Prinzip wie bei einer Ehe, nur dass keine Liebesbeziehung vorausgesetzt wird. Enge Freunde könnten sich zum Beispiel für eine solche Verantwortungsgemeinschaft entscheiden, sich nahestehende Mitbewohnerinnen oder Geschwister. Wie genau das aussehen soll und rechtlich bedeuten würde, geht aus dem Vertrag nicht hervor.

Auch künstliche Befruchtung wird künftig für mehr Menschen mit Kinderwunsch möglich: Bislang hingen staatliche Zuschüsse dafür von verschiedenen Kriterien ab, neben der medizinischen Indikation zum Beispiel vom Familienstand oder der sexuellen Identität. Das soll unter der Ampel anders werden. 

Für gleichgeschlechtliche Paare gibt es einen weiteren Fortschritt: "Wenn ein Kind in die Ehe zweier Frauen geboren wird, sind automatisch beide rechtliche Mütter des Kindes, sofern nichts anderes vereinbart ist", steht im Koalitionsvertrag. Das ist eine Neuerung, die viele Frauen schon lange fordern, denn bislang gilt nur die leibliche Mutter als offizielles Elternteil des Kindes, die andere Ehepartnerin muss das Kind adoptieren, um das Sorgerecht zu bekommen. "Das war immer eine Riesenbelastung", sagt Greta Garlichs, Sprecherin des parteipolitischen Netzwerks Queer Grün. Auch insgesamt ist Garlichs mit dem Ergebnis der Verhandlungen sehr zufrieden: "Der Vertrag ist ein historischer Erfolg für die queere Community. Er beendet endlich den Stillstand der vergangenen Jahre unter der Groko."

Die Ampel will das Transsexuellengesetz streichen

Rechte queerer Menschen

Auch queerpolitisch hat sich die kommende Koalition einiges vorgenommen: Ein zentrales Vorhaben ist, das Transsexuellengesetz abzuschaffen. Die derzeitige Regelung ist von 1981 und legt fest, unter welchen Umständen Menschen ihren Vornamen und ihr Geschlecht offiziell ändern dürfen. Dazu müssen sie sich bislang einem aufwendigen Verfahren unterziehen, bei dem sie mit Psychologen und Richterinnen sprechen – teilweise zu sehr intimen Themen. Das Gesetz war schon lange umstritten, das Bundesverfassungsgericht erklärte Teile davon für verfassungswidrig. Anstelle des Transsexuellengesetzes will die angehende Regierung ein Selbstbestimmungsgesetz einführen, das die Änderung des Geschlechts grundsätzlich per Selbstauskunft beim Standesamt möglich macht.

"Wir haben uns wirklich sehr über den Koalitionsvertrag gefreut", sagt Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans, der transpolitische Anliegen vertritt, "wenn die Ampel diese Vorhaben wirklich umsetzt, steht Deutschland damit im internationalen Vergleich ganz weit vorn".

 Während die Krankenkassen geschlechtsangleichende Operationen bislang nur unter bestimmten Voraussetzungen zahlen, sollen sie künftig die gesamten Kosten des Eingriffes tragen, so sieht es der Koalitionsvertrag vor. Außerdem wollen die Ampelparteien das Blutspendeverbot abschaffen, das derzeit für trans Personen sowie für Männer gilt, die gleichgeschlechtlichen Sex haben. Und auch in der inneren Sicherheit soll es eine Neuerung geben: Die Polizei soll queerfeindliche Hasskriminalität künftig separat erfassen, um sie sichtbar zu machen.

Reproduktive Selbstbestimmung

Eine deutliche Veränderung ist die Streichung des Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch. Der regelte bislang, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht beworben werden dürfen. Das führte praktisch zu einem Informationsverbot über Schwangerschaftsabbrüche, Ärztinnen durften etwa auf ihren Websites keine Informationen zu dem Thema bereitstellen. Dass sich das nun ändert, ist für Ärztinnen wie Kristina Hänel ein Erfolg. Sie wurde bekannt, weil sie trotz des Werbeverbots über Schwangerschaftsabbrüche informierte und deshalb verurteilt wurde. "Dass der Paragraf gestrichen wird, finde ich super", sagte Hänel dem Spiegel. Baldmöglichst wolle sie die entsprechenden Informationen wieder auf ihrer Website veröffentlichen.

Ebenfalls neu ist, dass die Ampel vorsieht, Schwangerschaftsabbrüche zum Teil von ärztlichen Aus- und Weiterbildungen zu machen. Im Medizinstudium kommt das Thema bisher normalerweise nicht vor. 

Weiterhin müssen Schwangere, die über einen Abbruch nachdenken, an einer Konfliktberatung teilnehmen, bevor sie den Eingriff durchführen lassen. Allerdings wird es künftig möglich sein, sich auch online beraten zu lassen. Zudem will die Ampel gesetzlich gegen sogenannte Gehsteigbelästigungen vorgehen. Das betrifft viele Ärztinnen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Vor vielen ihrer Praxen kommt es regelmäßig zu Demonstrationen, bei denen Gegner der Eingriffe teilweise sehr aufdringlich auftreten. 

Außerdem soll es Krankenkassen künftig möglich sein, freiwillig Verhütungsmittel zu erstatten – auch wenn sie weiterhin nicht unter die gesetzlichen Förderleistungen fallen. Und was außerdem viele Frauen freuen dürfte: Die Ampel verspricht im Koalitionsvertrag, mehr Geld zur Forschung an Verhütungsmitteln für alle Geschlechter zur Verfügung zu stellen. Denn während es mit Pille, Ring oder Spirale zahlreiche Mittel für Frauen gibt, um einer Schwangerschaft vorzubeugen, ist die Verhütung bei Männern bislang kaum erforscht – was auch daran liegt, dass bislang nur wenig in diesen Bereich investiert wurde.

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