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Intensivmediziner Karagiannidis: „Uns rennt die Zeit davon“ - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Während die Fälle von Corona-Neuinfektionen in Deutschland rasant steigen, schlägt der Intensivmediziner Christian Karagiannidis Alarm. „Die eingeschränkte Betriebsfähigkeit der Intensivstationen und der Personalmangel haben ein All-Time-High erreicht. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen rackern gerade weg, was sie können, aber sie sind zunehmend am Limit“, schrieb Karagiannidis, Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), am Samstagabend auf Twitter. In der RBB-„Abendschau“ warnte der Mediziner: „Uns rennt im Moment wirklich die Zeit davon.“

Karagiannidis rechnet in den kommenden zwei bis drei Tagen damit, dass die Schwelle von 3000 Covid-Patienten auf Intensivstationen erreicht werde. Am Samstag meldete die Divi 2941 Covid-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Innerhalb von zwei Wochen stieg die Zahl um rund 1000. Stärker als bei vorherigen Infektionswellen gebe es regionale Unterschiede. „Vor allen Dingen Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen, Thüringen bereiten mir doch größte Sorgen“, sagte der Intensivmediziner. Hinzu komme, dass die Zahl der Pflegekräfte während der Pandemie substanziell abgenommen habe.

Auf den Intensivstationen lägen zum „allergrößten Teil“ Ungeimpfte, sagte Karagiannidis dem RBB. Zunehmend gebe es hier aber auch doppelt Geimpfte, dies seien aber vielfach ältere Menschen sowie Patienten mit Medikamenten, die das Immunsystem dämpften. Auf Normalstationen sehe man ebenfalls mehr Impfdurchbrüche, diese Patienten seien aber vor schwerem Krankheitsverlauf geschützt. Mit Auffrischungsimpfungen sei dann die Wahrscheinlichkeit viel geringer, im Krankenhaus oder auf der Intensivstation zu landen.

Derzeit sind 67,5 Prozent der Deutschen vollständig geimpft. Damit das Virus aber nachhaltig erfolgreich bekämpft werden kann, müsste die Zahl der Geimpften deutlich höher sein. Teilweise erhöhen besondere Anreizen das Interesse an einer Impfung. War es im Sommer die kostenlose Thüringer Bratwurst, konnte am Samstag mit einem ähnlichen Lockmittel der Kreis Mecklenburgische Seenplatte zahlreiche Menschen zur Impfung bewegen: Die in Neubrandenburg beheimateten Rettungskräfte veranstalteten einen „Tag der offenen Tür“ und boten Schweinebraten an.

Innerhalb von vier Stunden haben sich 201 Besucher impfen lassen, sagte Impfkoordinator Sebastian Buse der Deutschen Presse-Agentur. Zeitweise bildete sich eine längere Warteschlange. Unter den Impfwilligen waren 48 Frauen und Männer, die ihre Erstimpfung bekamen, und 130, die sich ihre dritte Immunisierung spritzen ließen. Mit dem Angebot konnten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Zum einen wurde die Impfkampagne angekurbelt, zum anderen konnte der Sanitäts- und Betreuungszug neu angeschaffte Feldkochherde ausprobieren. Für das Essen habe man ohnehin Abnehmer gesucht, so der Impfkoordinator. Deutschlandweit liegt die Impfquote aktuell bei 67,5 Prozent, die vollständig geimpft sind.

Druck auf Bund und Länder steigt

Da das aber immer noch zu gering ist und die Infektionszahlen weiter steigen, wächst vor dem Treffen von Bund und Ländern am Donnerstag der Druck. In einem Aufruf forderten 35 führende Mediziner und andere Fachleute am Samstag die Regierungen zu einem schnellen Umsteuern auf. Die Forscher und Forscherinnen unter Federführung des Internisten Michael Hallek und der Virologin Melanie Brinkmann beklagen „den wiederholt nachlässigen Umgang mit dem Wohlergehen der Menschen, die auf den Schutz des Staates angewiesen sind“. Sie mahnen: „Jeder Tag des Abwartens kostet Menschenleben.“ In dem vom Kölner Stadt-Anzeiger und Redaktionsnetzwerk Deutschland veröffentlichten Aufruf fordern sie einen nationalen Krisenstab mit Fachleuten und Praktikern aus Virologie, Medizin und Unternehmen.

Aus den Reihen der Grünen kam derweil Kritik am Plan der Ampel-Parteien, den Sonderstatus der epidemischen Lage nationaler Tragweite auslaufen zu lassen. Die Grünen-Gesundheitsminister von Hessen, Brandenburg und Baden-Württemberg fordern eine Verlängerung der gesetzlichen Sonderlage, die auch ohne abermalige Zustimmung des Bundestags Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen ermöglichen würde. „Das stellt sicher, dass alle von den Expertinnen und Experten geforderten Maßnahmen umgesetzt werden können“, heißt es in einem Statement von Kai Klose (Hessen), Ursula Nonnemacher (Brandenburg) und Manne Lucha (Baden-Württemberg), das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.

Merkel wirbt für Einheitlichkeit

Der Bundestag soll am Donnerstag über die Änderung abstimmen. Die Unionsfraktion will eine Verlängerung des Sonderstatus beantragen, wie die Rheinische Post am Wochenende berichtete. Außerdem schlägt sie Änderungen für die von den Ampel-Parteien geplante Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes vor: Arbeitgeber sollen ein Fragerecht erhalten, um den Impfstatus ihrer Mitarbeiter feststellen zu können; Strafbarkeitslücken bei der Fälschung von Impfpässen sollen geschlossen werden.

Die  geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) warb am Samstag für ein einheitliches Vorgehen von Bund und Ländern. „Es hat uns immer geholfen, wenn Bund und Länder vorgehen und sich zu einheitlichen Regeln verpflichten“, sagte sie in ihrem Video-Podcast.  Merkel wies auf den sogenannten Hospitalisierungsindex hin, der die Zahl der Corona-Patienten in den Krankenhäusern angibt: Damit daraus die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden könnten, müssten sich Bund und Länder „sehr schnell“ auf einen gemeinsamen Schwellenwert einigen, „ab dem jeweils entsprechend der regionalen Infektionswerte verbindlich über die bisher geltenden Maßnahmen hinaus zusätzliche Schritte zur Eindämmung der Pandemie“ eingeleitet werden könnten. Sie und die Ministerpräsidenten wollen am kommenden Donnerstag über weitere Maßnahmen beraten.

Auch der geschäftsführende Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erhofft sich vom Bund-Länder-Treffen bundeseinheitliche Regelungen. „Wir dürfen die Bevölkerung nicht länger verwirren“, sagte er der Augsburger Allgemeinen. „Impfzentren auf, Impfzentren zu - Lohnfortzahlung bei Quarantäne ja, dann wieder nein - Test kostenfrei, Test kostenpflichtig. Ja, hat denn im Ernst jemand geglaubt, dass noch jemand sich auf eigene Rechnung testen lässt, wenn er danach in Quarantäne keine Lohnfortzahlung bekommt?“

Inzidenz abermals auf Höchststand

Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz ist derweil abermals auf einen Höchstwert gestiegen. Das Robert Koch-Institut (RKI) meldete am Samstag einen Wert von gut 277. Vor einer Woche lag der Wert bei knapp 184, vor einem Monat bei gut 65. Berlin überschritt die Inzidenz von 300, Thüringen von 500 und Sachsen von 600. In allen drei Bundesländern ist die Impfquote unterdurchschnittlich. Vier Landkreise melden inzwischen eine Inzidenz von mehr als 1000, 62 Kreise liegen über der Marke von 500. Nur noch Schleswig-Holstein verzeichnet mit 95,9 einen Wert unter 100. Vor allem in Sachsen, Thüringen, Hessen und Bayern werden Intensivbetten knapp.

Die Gesundheitsämter in Deutschland meldeten dem RKI binnen eines Tages 45.081 Corona-Neuinfektionen. Das geht aus Zahlen hervor, die den Stand des RKI-Dashboards von 04.21 Uhr wiedergeben. Am Donnerstag hatte die Zahl der Neuinfektionen mit 50.196 einen Rekordwert seit Beginn der Pandemie erreicht. Vor genau einer Woche hatte der Wert bei 34.002 Ansteckungen gelegen. Die Fallzahlen sind damit im Vorwochenvergleich um 33 Prozent gestiegen.

Deutschlandweit wurden den neuen Angaben zufolge binnen 24 Stunden 228 Todesfälle verzeichnet. Vor einer Woche waren es 142 Todesfälle gewesen. Das RKI zählte seit Beginn der Pandemie 4.987.971 nachgewiesene Infektionen mit Sars-CoV-2. Die tatsächliche Gesamtzahl dürfte deutlich höher liegen, da viele Infektionen nicht erkannt werden.

Die Zahl der in Kliniken aufgenommenen Corona-Patienten je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen – den für eine mögliche Verschärfung der Corona-Beschränkungen wichtigsten Parameter – gab das RKI am Freitag mit 4,70 an (Donnerstag: 4,65). Bei dem Indikator muss berücksichtigt werden, dass Krankenhausaufnahmen teils mit Verzug gemeldet werden. Ein bundesweiter Schwellenwert, ab wann die Lage kritisch zu sehen ist, ist für die Hospitalisierungs-Inzidenz unter anderem wegen großer regionaler Unterschiede bislang nicht vorgesehen. Der bisherige Höchstwert lag um die Weihnachtszeit bei rund 15,5.

Wegen der verlorenen Kontrolle über die Pandemie will die Bundeswehr nach einem Bericht des Magazins Der Spiegel bis Weihnachten wegen der sich verschärfenden Corona-Lage 12.000 Soldaten zur Unterstützung von überlasteten Kliniken und Gesundheitsämtern mobilisieren. Uniformierte Helfer sollen demnach auch für Auffrischungsimpfungen und Schnelltests vor Pflegeheimen und Hospitälern bereitstehen.

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