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Urteil gegen Nawalny: "Wir machen uns Sorgen um unser Land" - tagesschau.de

Reportage

Stand: 03.02.2021 02:04 Uhr

Es ist ein kaum überraschendes Urteil: Der russische Oppositionspolitiker Nawalny muss jahrelang ins Gefängnis. Bei Protesten seiner Anhänger werden mehr als 1000 Menschen festgenommen.

Von Ina Ruck, ARD-Studio Moskau

Hundertschaften der Spezialpolizei stehen vor dem Moskauer Stadtgericht, rundherum sind die Straßen abgeriegelt. Wer das Pech hat, zu dicht am Gerichtsgebäude zu wohnen, muss Ausweis und Meldeadresse nachweisen, um von den schwarzgekleideten OMON-Polizisten in ihren schusssicheren Westen durch die Absperrung gelassen zu werden. "Kosmonauten" nennen die Leute die OMON-Männer, wegen der runden Helme und den Schutzschilden aus Hartplastik an Armen und Beinen.

Ina Ruck
Ina Ruck ARD-Studio Moskau

Der Zugang zur Verhandlung, in der über Alexej Nawalnys Haftstrafe entschieden wird, ist gesichert wie eine Staatsgrenze. Eine ältere Frau an der Bushaltestelle regt sich sehr über die Sperrungen auf - man solle, sagt sie, "den Verbrecher endlich wegbringen, am besten gleich für 20 Jahre". Mehr dazu sagen will sie nicht.

Nawalny zeigt sich angriffslustig

Am Vormittag beginnt die Anhörung in Sachen Nawalny: die Strafvollzugsbehörde hatte den Antrag gestellt, eine bereits abgelaufene Bewährungsstrafe rückwirkend in Haft umzuwandeln. Nawalny habe mehrfach und immer wieder gegen die Bewährungsauflagen verstoßen. Auch während der Zeit, in der er in Deutschland war.

Über eine lange Zeit, sagt der Vertreter der Behörde, habe man nicht gewusst, wo sich Nawalny aufhalte. Für den ist das eine Steilvorlage: Ob man denn den eigenen Präsidenten nicht achte? Der, so Nawalny, habe doch in seiner großen Jahrespressekonferenz selbst erzählt, dass Nawalny in Berlin in der Charite sei.

Er ist angriffslustig wie immer, doch seiner Stimme hört man die nervliche Anspannung an. Er hat sich vorbereitet auf diese Anhörung, hält am Ende eine pointierte Rede mit scharfen und auch beleidigenden Angriffen - eine Breitseite gegen Präsident Putin. Nawalny nennt ihn "Mörder", einen "kleinen Mann im Bunker", prophezeit ihm, nicht als großer Geostratege oder weltweit bedeutender Politiker in die Geschichte einzugehen - sondern schlicht als "Vergifter von Unterhosen".

Er bezieht sich auf seine eigenen Recherchen, nachdem das Nowitschok-Nervengift offenbar an seiner Unterhose angebracht worden war. Längst ist die Unterhose zu einem Symbol des Protests geworden. Bei den Demos lassen Menschen blaue Unterhosen aus den geöffneten Fenstern ihrer Autos wehen.

Proteste vor dem Gericht

Während im Gericht eine sichtlich überforderte Richterin seitenlang in monotonem Tonfall Prozessakten vorliest - der leitende Richter im Verfahren hatte erst Tage vorher hingeworfen - sammeln sich draußen Unterstützer Nawalnys. Längst nicht so viele wie beim Protest am vergangenen Sonntag: An einem Arbeitstag hat kaum jemand Zeit, Stunden vor einem Gericht zu verbringen.

Wladimir, 59, ist dennoch gleich nach der Nachtschicht gekommen. Arbeiter sei er, "solche wie ich haben früher immer zu Putin gehalten". Er fühle sich beinahe verpflichtet, trotz der Müdigkeit jetzt hier zu stehen. "Alle meine Kollegen im Werk haben Nawalnys letzte Recherche gesehen, den Film über den Palast. Das hat uns alle umgehauen. Für uns ist Nawalny ein Held. Er ist dem Tod entkommen - und stellt sich wieder in den Kampf."

"Wir machen uns Sorgen um unser Land"

Auch junge Leute sind da - Mila und Katja etwa, zwei junge Frauen, die, wie sie sagen, "in diesem Land Kinder bekommen möchten", und nicht auswandern, wie so viele, damit die Kinder in einer freien Gesellschaft aufwüchsen. "Ich glaube, es werden immer mehr Menschen werden, die so denken, sagt Mila. Wir kommen nicht aus Spaß hierher, wir machen uns Sorgen um unser Land. Und wenn selbst die Jugend sowas sagt, dann heißt das doch was."

Er sei eigentlich kein Fan von Nawalny, sagt ein anderer Mann, Jewgenij: "Aber weil er die Wahrheit sagt, die uns alle anderen vorenthalten, die auch im Fernsehen nie gesagt wird. Weil er sich das traut, obwohl es in unserem Land ja wie ein Verbrechen behandelt wird, wenn man die Wahrheit sagt - dafür respektiere ich ihn."

Während er das sagt, führen Polizisten mehrere Nawalny-Unterstützer ab und schieben sie in den "Avtozak", einen vergitterten Gefängnistransporter. Noch bevor die Verhandlung nebenan im Gericht beendet ist, werden in den umliegenden Straßen 300 zeitweise festgenommen - bis zum Abend sind es laut Aktivisten dann rund 1100.

Urteil überraschte niemanden

Als die Richterin später im Saal das Urteil verliest, ist niemand überrascht: Nawalny kommt in Haft. Und doch sieht man ihm an, dass es ihn trifft. Auch wenn die Haft kürzer ausfällt als befürchtet: Ein Jahr, das er bereits im Hausarrest verbracht hat, wird angerechnet. Nicht dreieinhalb Jahre, sondern voraussichtlich zwei Jahre und acht Monate soll er deshalb ins Lager. Mit dem Finger malt er ein Herz an das Panzerglas des Glaskäfigs, in dem er an der Verhandlung teilnimmt - seine Frau Julia sitzt im Publikum und sieht es.

Zehn Tage haben die Anwälte nun Zeit, ihre Berufung einzulegen, sie haben die bereits angekündigt. Und dann droht da noch das nächste Verfahren: Nawalny wird Unterschlagung von Spendengeldern vorgeworfen - bis zu zehn Jahre könnte er bekommen. Gut möglich, dass er für lange Jahre von der Bildfläche verschwindet. Er könnte vergessen werden - oder aber erst Recht zum Symbol des Widerstandes werden. Denn das Problem, das der Kreml jetzt hat, ist nicht einfach wegzusperren: Das Unbehagen und die Unzufriedenheit, denen Nawalny eine Stimme gegeben hat, werden bleiben.

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