Grünen-Chefin Annalena Baerbock hat viele Talente. Sie kann in Talkshows schlagfertig sein, sie ist gut darin, Kompromisse zu finden und Streit zu schlichten, sie ist freundlich und zugewandt. Reden halten aber ist nicht ihre größte Stärke. Das zeigte sich auf dem ersten digitalen Parteitag der Grünen an diesem Wochenende.
Um die Bundesdelegiertenkonferenz – so heißen Parteitage im Grünen-Universum – in Coronazeiten im Internet abhalten zu können, hat der Vorstand das Tempodrom in Berlin gemietet und zu einer Art riesigem Fernsehstudio umgebaut. Auf den Rängen sitzen die wenigen Print- und Online-Journalisten, die physisch anwesend sind, in der Halle selbst haben RTL, Phoenix, ZDF und ARD ihre Studios aufgebaut, davor sitzen einige Mitarbeiter und technisches Personal vor ihren Bildschirmen. Ganz vorne sind vier Bühnen aufgebaut. Auf einer davon steht am Freitagabend Baerbock und hält die erste politische Rede.
Die Stimme schwer von Pathos
Trotz Teleprompter redet Baerbock so langsam, als hätte sie die Worte vorher auswendig gelernt und als sei sie unsicher, welcher Satz auf den anderen folgt. Sie überbetont Satzteile. Die Gesellschaft solle jetzt den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen. Man brauche saubere Autos auf der Straße – jetzt. Eine Kreislaufwirtschaft – jetzt. Das »jetzt« haucht sie dahin und ihre Stimme ist schwer von Pathos.
Es sind die Kameras, die Baerbocks Rede schlechter machen, als sie es sonst wäre. Die Kameras sehen alles, sie nehmen alles auf, man kann nichts verstecken. Baerbock fasst sich ins Gesicht, eine kleine Geste, die auf einem Bildschirm überdimensioniert groß wirkt. Die Kamera lässt ihre Gefühligkeit übertrieben wirken und ihre Pausen ziehen sich noch länger als sie es ohnehin schon sind.
Vielleicht ist es gemein, das zu kritisieren. In anderen Jahren würden die kleinen Fehler nicht auffallen. Wäre die Halle mit Delegierten gefüllt, könnte Baerbock mit ihnen interagieren. Sie würde schneller reden, ganz von allein. Ihre Art zu sprechen wäre weniger gestelzt, weil sie nicht in die Kamera sprechen würde, sondern zu ihrem Publikum. Aber dieser Parteitag findet in der neuen Normalität statt und in dieser müssen Politiker so mit Kameras harmonieren können, dass sie auf die Menschen hinter den Bildschirmen nahbar wirken.
Baerbocks Schwäche fällt vor allem auf, weil der Parteitag ansonsten ziemlich professionell gestaltet ist. Die Grünen haben einen Anfangsfilm produziert, das Motto des Parteitags ist eingeblendet, »Jede Zeit hat ihre Farbe«, es folgen Szenen aus dem vergangenen Jahr, von Demonstrationen gegen das Elendsflüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos, man sieht ein Bild von einem Arzt, der seinen Kopf auf seine Arme legt, von Menschen, die Kerzen aufstellen. Unterlegt ist es mit epischer Musik. »Jede Zeit hat die, die für das Gute kämpfen«, sagt die Stimme aus dem Off, es folgen Bilder der Demonstranten aus Belarus, der Black-Lives-Matter-Bewegung, dann ein Bild von Habeck und Baerbock. Das zeugt vielleicht von grüner Hybris, professionell ist es trotzdem.
Regale, die wütend machen
Am Samstagmittag folgt die Rede von Robert Habeck. Dem Parteichef wird rhetorisch großes Talent zugeschrieben, nicht zu Unrecht. Habeck liest, wie Baerbock, vom Teleprompter ab, das macht er sonst nicht, er redet meist frei und oft ohne Manuskript. Aber auch Habeck muss sich der neuen Normalität unterordnen, und die erfordert offenbar Teleprompter. Er wirkt härter als sonst.
Habeck erzählt eine Geschichte aus einem Discounter, bei dem er manchmal einkaufen gehe. Sie hätten die Regale umgebaut, Habeck habe sich nicht zurechtgefunden, er habe doppelt so lange gebraucht wie sonst, es habe ihn geärgert. Habeck schreit fast, redet sich in Rage. Würde Habeck nicht in eine Kamera reden, wäre es schwer vorstellbar, dass er so über die – doch sehr banale – Anekdote aus dem Supermarkt sprechen würde. Nun aber haut er mit der Kante seiner rechten Hand in seine linke Handfläche. »Warum, in aller Welt, konnten sie die Dinge nicht lassen, wie sie sind?« schäumt er.
Er will Verständnis zeigen, für die Menschen, die sich in dieser kompliziert gewordenen Welt nicht mehr zurechtfinden, sagt, gewissermaßen würden die »Regale der Gesellschaft« neu sortiert. Auch auf einem Parteitag in Vor-Corona-Zeiten wäre das ein arg bemühtes Bild, aber vielleicht eines, das weniger aufgefallen wäre.
Bleibt zu hoffen, dass der nächste Parteitag wieder analog stattfinden kann.
Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Delegierte säßen in der Halle. Das ist falsch, in der Halle sind keine Delegierten anwesend, da der Parteitag in diesem Jahr virtuell stattfindet. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.
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