Die Angst vor dem Kontrollverlust ist groß. Denn in den großen Städten und Ballungsgebieten steigen die Corona-Zahlen so sprunghaft an, dass die Gesundheitsämter bei der Kontaktverfolgung nicht mehr nachkommen. Das ist der Beginn einer unkontrollierten Ausbreitung mit womöglich ähnlich hohen Zahlen wie im Nachbarland Frankreich, das Deutschland in der Infektionsentwicklung immer einige Wochen voraus ist. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich am Freitag deshalb in einer Schaltkonferenz mit den Stadtoberhäuptern der größten Städte (Berlin, Hamburg, Bremen, München, Frankfurt am Main, Köln, Düsseldorf, Dortmund, Essen, Leipzig und Stuttgart) beraten, wie die Infektionsraten wirksam eingedämmt werden können. Der Erste Bürgermeister Hamburgs, Peter Tschentscher (SPD), dessen Stadt am Freitag die Schwelle von 35 Neuinfizierten pro 100 000 Einwohnern in sieben Tagen überschritten hatte, ist der Überzeugung, die Pandemie werde in den Metropolen entschieden. In Berlin lag die Inzidenz am Donnerstag bei 52,8, in Frankfurt am Main schnellte der Wert am Donnerstag sogar auf 59,1 hoch.
Die Kanzlerin ist überzeugt davon, dass sich die Infektionszahlen mit einer überschaubaren Zahl von Maßnahmen stabilisieren lassen. Dazu zählen Abstands- und Hygieneregeln für die gesamte Bevölkerung und die konsequente Kontaktverfolgung. Bei einer Inzidenz von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche entsendet das Robert-Koch-Institut Fachleute zur Beratung in die Krisenstäbe der betroffenen Großstadt. Auch die Bundeswehr kann in solchen Fällen Unterstützungspersonal senden. Die Großstädte ihrerseits sollen dem öffentlichen Gesundheitsdienst mit geschultem Personal helfen, was etwa durch Abordnung aus der Verwaltung möglich ist, aber auch durch den Einsatz von Medizinstudenten oder anderen Freiwilligen.
Mit der Hochschulrektorenkonferenz soll gesprochen werden, ob ein verstärkter Einsatz auch anderer Studenten so geplant werden kann, dass ihnen kein Nachteil für das Studium erwächst. Spätestens von 50 Neuinfektionen an kommen eine erweiterte Pflicht zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, die Einführung von Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum, eine Sperrstunde und/oder Alkoholbeschränkungen für Gastronomiebetriebe sowie weitergehende Beschränkungen der Teilnehmerzahlen für öffentliche und private Veranstaltungen in Betracht.
„Jetzt sind eben die Tage und Wochen, die entscheiden, wie Deutschland im Winter in der Pandemie dasteht“, sagte Merkel. War es zu Anfang das Ziel der Politik, die Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, sind es nun die Gesundheitsämter, die noch zur Kontaktverfolgung in der Lage sein müssen. Merkel appellierte gerade an jüngere Menschen, „die das vielleicht alles übertrieben finden“, an die Gesundheit der Großeltern und der Familien und gute Ausbildungschancen zu denken, die an einer starken Wirtschaft hingen. „Alles wird zurückkommen: Feiern, Ausgehen, Spaß ohne Corona-Regeln, jetzt aber zählt etwas anderes: Achtsamkeit und Zusammenhalt“, versicherte Merkel und appellierte an die Verantwortung jedes Einzelnen.
Köln verschärft Beschränkungen
Köln will von Samstag an die Corona-Einschränkungen für die Bevölkerung verschärfen. Künftig sollen sich höchstens fünf Personen aus verschiedenen Haushalten in der Öffentlichkeit treffen dürfen – bisher waren es zehn, wie Oberbürgermeisterin Henriette Reker (parteilos) am Freitag nach der Schalte sagte. Im öffentlichen Raum soll zudem abends ab 22 Uhr der Konsum von Alkohol verboten sein, an den Wochenenden darf an Hotspots kein Alkohol mehr verkauft werden. Eine Sperrstunde werde zunächst aber nicht eingeführt, sagte Reker. In Fußgängerzonen gebe es nun eine Maskenpflicht.
Zudem wird die Personenzahl bei Feiern beschränkt: Bei privaten Feiern in angemieteten Räumen sind künftig höchstens 25 Personen erlaubt. „Von Feiern in der eigenen Wohnung raten wir dringend ab“, sagte Reker. Mehr als zehn Personen sollten dort nicht zusammen kommen.
Köln lag nach Zahlen des Landeszentrums Gesundheit am Freitag mit einem Wert von 49,8 nur ganz knapp unter der wichtigen Warnstufe von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen. „Wir sind uns sicher, dass wir diesen Wert am Samstagmorgen übertroffen haben werden“, sagte der Chef des Gesundheitsamtes, Johannes Nießen. Bei Überschreiten dieser Marke schreibt die nordrhein-westfälische Corona-Schutzverordnung vor, dass weitere Einschränkungen für das öffentliche Leben erlassen werden müssen.
Müller will auch „unkonventionelle Lösungen“ für Schulen
Unter den Neuinfizierten seien viele im Alter von 29 bis 40 Jahren, die besonders mobil seien und drinnen und draußen gefeiert hätten, sagte der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller (SPD). Mit dem Ersten Bürgermeister Hamburgs hat er verabredet, dass es bei den Schulen auch „unkonventionelle Lösungen“ geben kann, also einen Schichtbetrieb vormittags und nachmittags, um die Frischluftzufuhr zu sichern. Müller wies während einer Pressekonferenz mit Universitätsmedizinern darauf hin, dass viele Stellen bei den Gesundheitsämtern nicht besetzt werden könnten. Es gebe allein in Berlin 200 offene Stellen, für die man keine Mitarbeiter finde. Die Berliner Charité und andere Universitätskliniken bereiten sich unterdessen auf einen neuen Anstieg schwerkranker Covid-19-Patienten vor. Das Nachsehen haben wie im März und später Menschen mit Tumorerkrankungen, Herzerkrankungen und schweren Leiden, deren Operationen abermals aufgeschoben werden. Es sei eine „schwierige ethische Frage“, welche Patienten weiter auf einen dringenden Eingriff warten müssten, sagte der Vorstand Krankenversorgung der Charité, Ulrich Frei.
Das größte Problem sieht er in fehlendem Pflegepersonal. „Die Notlage wird noch dadurch verstärkt, dass die Bundesregierung seit August die vorgeschriebenen Untergrenzen für Pflegepersonal auf den Stationen wieder eingeführt hat.“ Das führe zu einem Mangel bei der Intensivmedizin. Hinzu komme eine Vielzahl von Infektionen bei Pflegepersonal, die wiederum eine Kette von Quarantäne-Fällen nach sich zögen. Der Ärztliche Direktor und Vorstandsvorsitzende des Universitätsklinikums Frankfurt, Jürgen Graf, pflichtete Frei bei, die Zahl der Intensivbetten sei nicht das Problem, wohl aber die betriebsfähige Zahl der Intensivbetten mit der entsprechenden Infrastruktur von Beatmungsgeräten und das nötige Pflegepersonal. Allein in den letzten beiden Wochen haben sich in Frankfurt doppelt so viele Pflegekräfte angesteckt wie in den vergangenen drei Monaten. Jetzt sei eine abermalige Konzentration auf Covid-19-Erkrankungen nötig, sagte Graf. In Hessen koordiniert ein Planungsstab die stationäre Versorgung unter Leitung des hessischen Sozialministeriums, in Berlin ist dafür die Charité zuständig.
Drosten warnt vor hoher Sterblichkeit
Der Berliner Virologe Christian Drosten hat sein Unverständnis über die öffentliche Diskussion geäußert, ob die Corona-Erkrankung wirklich noch so gefährlich sei. Nach wie vor sei die Sterblichkeit für ihn ein aussagekräftiger Parameter. Es gebe derzeit „viele Irrlichter“ in der öffentlichen Information, sagte der Direktor des Instituts für Virologie der Charité und forderte die Medien auf, genauer nach der wissenschaftlichen Grundlage der Verharmloser zu fragen. Drosten sagte, dass es mittlerweile klare Zahlen zur Infektionssterblichkeit gebe. Wenn man alle Infizierten betrachte und nicht nur die registrierten Fälle, könne man in Deutschland von einer Sterblichkeit „im Bereich von einem Prozent oder sogar etwas mehr“ ausgehen, wenn das Virus die Bevölkerung durchlaufe. Das wäre eine etwa 20 Mal höhere Sterblichkeit als bei der Grippe, und dafür sei ganz gewiss nicht nur die erhöhte Testung verantwortlich.
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